Satzwende: Tanja Maljartschuk (1/2)

Roter Luftballon
© Blake Cheek on Unsplash

Geschichten sind Narben

Es gibt so viel Schmerz, dass ich ihn nicht einmal teilen möchte. Soll er ganz nur mir gehören, nur meiner sein. Mein Rücken ist wie ein Waschbrett, mein Kopf wie ein Luftballon, in den zu viel Gas hineingepumpt wurde. Gerne würde ich wie ein roter Luftballon davonfliegen. Dann hält mich keiner mehr (Elfriede Gerstl). 

Es gab nämlich eine Dame, die immer davon träumte, weggeflogen zu sein. Sie hieß Lida. Im Zweiten Weltkrieg wurde eines ihrer Beine nach einer Explosion und langer Operation zwanzig Zentimeter kürzer. Und doch war diese Behinderung das Geringste, das Lida im und durch den Krieg erlitten hatte. Auf einmal wurde sie alt, ein verwaistes mittelloses 17-jähriges Mädchen, und sie blieb alt ihr langes Leben lang, ein Leben voller schwerster und dreckigster Arbeit. Als ich selbst 17 wurde, erzählte sie mir: Jede Nacht träume ich von einem Zimmer, in dessen Mitte sich ein elektrischer Fleischwolf befindet. Er ist riesig und zermahlt alles Lebendige, es herrscht ein furchtbarer Lärm rund um den Fleischwolf herum. Ich fliege an die Decke und durch das kleine Fenster hinaus. Hurra! Gerettet! Im nächsten Augenblick sehe ich aber, dass ich mich in dem gleichen Zimmer befinde, mit dem gleichen Fleischwolf in der Mitte. Erschrocken fliege ich wieder durch das Fenster hinaus und gelange in ein weiteres gleiches Zimmer mit einem gleichen Fleischwolf, und dann ins noch weitere, noch weitere… Wie du siehst, pflegte die alte Lida am Ende zu sagen, um frei zu sein, reicht es nicht aus, fliegen zu können. 


“Wie du siehst, um frei zu sein, reicht es nicht aus, fliegen zu können.


Irgendwann hat sie es doch geschafft, ihr armes Haus steht jetzt leer. Wenn ich mich noch freuen kann, dann für diejenigen, die einen weiteren Krieg nicht mehr erleben müssen, deren Flug an die Decke friedlich beendet ist. Ihr Schmerz sammelt sich nicht mehr an, während die alten Reserven vernarben, sich in Geschichten verwandeln. Wir erzählen sie untereinander immer und immer wieder, manchmal als Tragödien, manchmal als Märchen, und verstehen sie nicht. 

Auch mein Schmerz wird eines Tages …

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Portrait Tanja Maljartschuk
© George Eberle

Tanja Maljartschuk

wurde 1983 in Iwano-Frankiwsk in der Ukraine geboren, studierte Philologie an der Universität Iwano-Frankiwsk und arbeitete nach dem Studium als Journalistin in Kiew. 2009 erschien auf Deutsch ihr Erzählband Neunprozentiger Haushaltsessig, 2013 ihr Roman Biografie eines zufälligen Wunders, 2014 Von Hasen und anderen Europäern, 2019 ihr Roman Blauwal der Erinnerung. 2018 erhielt Tanja Maljartschuk den Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Autorin schreibt regelmäßig Kolumnen und lebt in Wien.

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