Als ich die Logbuch Bücherhandlung in Walle betrete, bin ich ein bisschen aufgeregt. Es ist 18:30 Uhr, eine halbe Stunde nach den normalen Öffnungszeiten. Gedämpftes Licht und der typische Geruch von Papier empfangen mich. Obwohl in dem schmalen, lang geschnittenen Raum mehrere Personen sitzen, ist es sehr still. Denn alle Besucher*innen des Ladens lesen in ihren Büchern.
Dafür bin ich auch hier. An diesem Dienstagabend findet nämlich eine sogenannte Silent Reading Party im Logbuchladen statt. Silent Reading ist ein Leseformat, das sich in den USA entwickelt hat. Bei diesen Events treffen sich Lesebegeisterte, um gemeinsam, aber jede*r für sich und in Ruhe zu lesen – ohne Gespräche, Handys, Musik oder äußere Ablenkung.
Ein Mitarbeiter des Ladens begrüßt mich im Flüsterton und ich suche mir einen freien Stuhl schräg gegenüber der Eingangstür aus. Eigentlich lese ich am liebsten zu Hause -– alleine. Wäre ich nicht im Auftrag des Literaturmagazins unterwegs, hätte es mich nach meinem langen Uni-Tag vermutlich nicht hierher verschlagen. Aber hier bin ich nun – also kann es losgehen. Ich schlage den Roman auf, den ich morgens recht willkürlich aus dem Stapel meiner ungelesenen Bücher gezogen und in meinen Uni-Rucksack geworfen habe. Das Buch trägt den Titel Lea und ist von Pascal Mercier. Es liegt schon einige Monate unangetastet in meinem Regal.
Auf der ersten Seite lese ich den Slogan vom btb Verlag: Aus Freude am Lesen. Ich muss grinsen. Das passt. Deswegen sind wir alle hier. Die ersten Absätze ziehen sich. Ich schiele alle paar Sätze unauffällig über den Rand des aufgeschlagenen Buches und lasse meinen Blick durch den Laden schweifen. Ich fühle mich ein wenig beobachtet und zu Beginn ist es ungewohnt, schweigend und lesend mit fremden Menschen in einem Raum zu sitzen. Aber alle scheinen in ihre Lektüre vertieft zu sein. Also wende auch ich mich wieder der Geschichte zu, die ich mitgebracht habe. Und langsam aber sicher passiert etwas, das ich schon viel zu lange nicht mehr erlebt habe. Ich vergesse beim Lesen die Zeit. Ich lese dreißig Seiten. Und noch einmal dreißig. Und noch einmal. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so vertieft in ein Buch war.
Und genau das ist die Idee von Silent Reading. Der Logbuchladen beschreibt das Format auf seiner Webseite als eine gute Gelegenheit, sich Zeit zu nehmen. Ohne die Ablenkung durch Smartphone, Social Media, Streamingplattformen oder die Menschen, mit denen man sich vielleicht die Wohnung teilt. Es geht darum, sich selbst den Raum zu geben, sich ganz in Ruhe im Lesen zu vertiefen.
Dass dieser Raum im Alltag oft fehlt und die Ablenkung meist nicht weit ist, kenne ich nur allzu gut. Es wandern oft morgens Bücher in meinen Unirucksack, aber rausgeholt werden sie selten. Höchstens in der Bahn oder halbherzig zwischen zwei Vorlesungen – aber davon, dass ich mir wirklich Zeit nehme, kann man dabei wohl kaum sprechen. Auch in meiner Wohnung, von der ich zu Beginn behauptet habe, ich würde dort am liebsten lesen, sieht es – wenn ich ehrlich bin – nicht viel anders aus. Der Stapel mit ungelesenen Büchern zuhause ist hoch – die Zeit knapp und die Bildschirme nah. Heute hätte ich mich nach der Uni wahrscheinlich ebenfalls hinter den Laptop geklemmt und mich von einer meiner Lieblingsserien, die ich bereits ein Dutzend Mal geschaut habe, berieseln lassen oder mit einem Podcast auf den Ohren den Abwasch gemacht.
Aber hier, von anderen Lesenden umgeben und inmitten der hunderten von Büchern, die sich in den Regalen aufreihen und auf Tischen ausgelegt sind, geht es plötzlich doch ganz gut. Die Atmosphäre hilft: Von draußen dringen gedämpfte Geräusche hinein, ein hupendes Auto, lachende Kinder oder rufende Stimmen. Eine Frau bleibt vor dem Schaufenster stehen und schaut ein wenig verwundert hinein. Etwas ungewöhnlich wirkt das Setting vielleicht auf Außenstehende. Doch drinnen ist es ruhig. Alle sind in ihre Bücher vertieft, alleine, aber irgendwie auch gemeinsam. Verbunden durch die Freude am Lesen. Gegen eine kleine Spende bekommt man ein Glas Wein oder Wasser. Ab und zu raschelt eine Seite oder ein Stuhl knarrt. Es fühlt sich sehr natürlich an, hier zu lesen – weil alle es tun. Und genau das macht den Reiz aus: Lesen als stilles, aber kollektives Ritual.
Als ich den Laden verlasse, bin ich überrascht, dass die Sonne bereits untergeht. Es sind gut zwei Stunden vergangen und hundert Seiten gelesen. Der Abend war für mich eine tolle Entdeckung. Ruhig, entschleunigend, fast meditativ. Ein Self-Care-Moment, der ganz ohne Kosten oder großen Aufwand auskommt. Ich bin rausgekommen, war unter Menschen und gleichzeitig ganz bei mir. Beim nächsten Mal bin ich sicher wieder dabei.
Auch für alle anderen, die sich beim Lesen mal wieder verlieren wollen, sei an dieser Stelle eine klare Empfehlung ausgesprochen – einfach mal ausprobieren!