Lesetipp aus der Redaktion: Die Wand

„Verdutzt streckte ich die Hand aus und berührte etwas Glattes und Kühles: einen glatten, kühlen Widerstand an einer Stelle, an der doch gar nichts sein konnte als Luft.“ (15)

Sie erwacht morgens allein in der einsamen Jagdhütte in den Bergen, nur begleitet von Hund Luchs. Auf dem Weg ins Dorf stößt sie plötzlich gegen eine unsichtbare Wand, die sie vom Rest der Welt trennt. Jenseits dieser Wand scheint das Leben von Menschen wie Tieren völlig ausgelöscht. Ohne lange nach dem Ursprung dieser unüberwindbaren Barriere zu fragen, muss sie ‚innen‘ ums Überleben kämpfen: Sie ist nun der Gewalt der Natur, des Wetters sowie ihren grundlegendsten Bedürfnissen ausgesetzt. Schmerzvoll und voller Rückschläge muss sie sich dem kargen Wald- und Bergleben anpassen. Bald wird ihr klar: Das größte Hindernis ist ihr menschliches Fühlen, Denken und Handeln. Verzweifelt versucht sie, nicht alles mit Erfahrung und Erinnerung wie Furcht, Hoffnung, Ungeduld oder Fantasie zu belegen, sondern wie ihre Tiere - zum Hund kommen noch Kuh, Kälbchen und Katzen hinzu - nur im Hier und Jetzt zu leben.

Das Titelbild zeigt in gewisser Unschärfe eine Frau mit weißer Bluser und hochgestecktem Haarkranz, die in die Kamera blickt i

„Ich bin (…) immer noch ein Mensch, der denkt und fühlt, und ich werde mir beides nicht abgewöhnen können. Deshalb sitze ich hier und schreibe alles auf, was geschehen ist“ (212)

Unglaublich, welche Spannung und tragische Stimmung diesen Text in seinen ruhigen, klaren Sätzen von der ersten Seite an durchzieht. Die minutiösen Beschreibungen der einsamen Tagesabläufe der Ich-Erzählerin werden immer wieder durch Rückblenden und düstere Ahnungen durchbrochen. Sehr bald wird uns klar: Die Wand ist kein schützendes Paradies, das Böse ist schon da oder wird kommen - wir wissen nur nicht, wann und in welcher Form. Bis zum Schluss bleibt die entsetzliche Frage: Was geschieht, wenn der Bericht der Erzählerin zu Ende geschrieben ist?

Marlen Haushofers Die Wand ist bereits 1963 erschienen. Von seiner existentiellen Wucht und gedanklichen Tiefe hat der Roman bis heute nichts verloren - er wirkt aktueller und eindringlicher denn je.

 

DIE WAND | Marlen Haushofer | Ullstein Buchverlage | Berlin 2004 | 288 S. | € 12,99

Das Portrait zeigt Stephanie Schaefers.
© Rike Oehlerking

Stephanie Schaefers

ist promovierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin und seit 2010 als freie Literaturdozentin aktiv. In der Erwachsenenbildung bietet sie Vorträge, Kurzworkshops, wöchentliche Seminare sowie Bildungszeiten in der Reihe Literatur an Ort und Stelle an. Als @textwerkbremen ist sie auf Instagram zu finden. Auch dort teilt sie ihr Wissen über literarische Werke und ihre Begeisterung für Gegenwartstexte. Und das beste: Seit 1. Mai ergänzt sie das Team des virtuellen Literaturhauses als Projektleitung! 

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