Lesetipp: Arne Frederik Schulz empfiehlt

Collage von Buchcovern von Laszlo Krasznahorkai.

Achtung! Bitte einmal kurz tief Luft holen. Der Text ist ein bisschen länger geworden als geplant. Was aber glücklicherweise passend ist zum Autor, um den es im Folgenden gehen soll, also sei es mir verziehen.

Jedes Jahr im Oktober sitze ich in freudiger Erwartung und mit angehaltenem Atem vor dem Livestream und schaue mir die Bekanntgabe des Literatur-Nobelpreises an. Vorher spekuliere ich ein bisschen – und dieses Jahr lag ich richtig. Zugegeben zum ersten Mal.

Endlich! László Krasznahorkai erhält den Literaturnobelpreis 2025. Der ungarische Schriftsteller – geboren 1954 in Gyula – gehört zu den komplexesten, kompromisslosesten Autoren und eindrucksvollsten Stimmen der Weltliteratur.

Er ist ein Chronist der Unruhe unserer Zeit, ein Beherrscher des Bewusstseinsstroms und ein Skeptiker behaupteter Wahrheiten. Als „Meister der Apokalypse“ erzählt er in ausufernden, oft satzzeichenarmen Sätzen, für die es bei Weilen schon mal einen langen Atem braucht, von Menschen am Rand, vom Zerfall der Ordnung und von der Apokalypse im Alltag: vom Leben in der Warteschleife des Weltuntergangs. Sowieso hat er ein Gespür für Abgründe, die sich innerhalb von Gemeinschaften auftun, wenn äußere Umstände das gewohnte Leben ins Wanken bringen. Für die Zerrissenheit, die Zerwürfnisse, die Anfälligkeit für Ideologien, falsche Hoffnungen und populistische Versprechungen. Seine frühen Romane, wie „Satanstango“ oder „Melancholie des Widerstands“, sind angesiedelt in der ungarischen Provinz, verhandeln den Zerfall sozialer Ordnungen in posttotalitären Zeiten und eignen sich gut als Einstieg in sein Werk, da sie in seine oben bereits erwähnten zentralen Motive einführen. Es sind melancholische Meditationen über das Ende – und darüber, was danach bleibt. Immer wieder bevölkert von Gestalten, die sich gegen das unvermeidliche Schicksal stemmen, die in einer chaotischen Gegenwart um Sinn ringen. Vielleicht keine ganz leichte Lektüre, viel mehr dicht und düster, aber auch voller grotesker Szenen und abgründigem Humor – und damit Herausforderung und Offenbarung zugleich. 

In der darauffolgenden Schaffensphase werden seine zentralen Themen in Werken wie „Seiobo auf Erden“ oder „Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss“ immer mehr mit philosophischen Reflexionen und fernöstlicher Spiritualität verflochten. Auch wurden seine ohnehin schon langen Sätze immer länger und länger bis hin zu den vielleicht längsten Sätzen der Weltliteratur. Der Punkt am Ende des Satzes ist der Tod, hat er einmal gesagt. Dieses Diktum kulminiert in seinem Roman „Herrscht 07769“, der nur aus einem einzigen langen mäandernden Satz besteht und auf über 400 Seiten vom Eindringen von Neonazis in eine thüringische Kleinstadt erzählt. In diesen Marathonfluss werden Lesende atemlos hineingezogen und mitgerissen, fast paradoxerweise zwingt er gleichzeitig zum Innehalten, zur Geduld, zur Achtsamkeit und zur Auseinandersetzung – und genau deshalb ist sein Werk so notwendig. „Inmitten apokalyptischen Terrors bekräftigt es die Macht der Kunst“, begründet die Jury ihr Urteil. Eine gute Wahl und ein mehr als würdiger Preisträger. Ich freue mich sehr und gratuliere herzlich.

 

Abschließend noch ein Filmtipp der etwas anderen Art: Mehrere seiner Werke wurden kongenial von Béla Tarr verfilmt – darunter das monumentale „Satanstango“, das über sieben Stunden dauert und als Klassiker des Arthouse-Kinos gilt. Ein langer Atem ist für diesen Film noir in Zeitlupe schon vonnöten, dieser wird aber mit einer filmischen Grenzerfahrung belohnt.


László Krasznahorkais Werke erscheinen in deutschsprachiger Übersetzung beim S. Fischer Verlag.

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Arne Frederik Schulz

ist studierter Germanist und Philosoph, ausgebildeter Werbetexter und Buchhändler aus Leidenschaft. Nach Stationen in der Werbung, ersten Erfahrungen als nebenberufliche Aushilfe im Buchhandel und einem Umzug mit seiner kleinen Familie ins idyllische Ostfriesland ist er seiner Leidenschaft gefolgt: der Literatur, dem Lesen und den Büchern. Er absolviert einen Fernlehrgang zum Buchhändler und teilt seine Liebe zur Literatur nicht nur bei seiner Arbeit in einer unabhängigen Buchhandlung, sondern auch auf Instagram unter @arnenymes_buecherleben sowie als Mitgründer eines Buchclubs. Besonders gerne liest er Klassiker und zeitgenössische Romane, gerne unabhängig verlegt, aber nicht nur. Er findet: Es gibt kaum einen schöneren Ort zum Arbeiten als eine Buchhandlung.

Zum Instagramprofil von @ARNENYMES_BUECHERLEBEN

Das Bild zeit ein Porträt von Arne Schulz.
© privat

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