Die Lungenschwimmprobe, dieser seltsame Titel und das extrem tolle Cover haben mich direkt angezogen. Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde heißt es weiter und damit war die Sache klar – reizt mich, muss ich lesen. Tore Renberg, einer der erfolgreichsten Autoren Norwegens, entführt uns ins Sachsen des 17. Jahrhunderts, ins barocke Leipzig und mitten hinein in eine hochspannende Zeit der Veränderungen und Umbrüche. Der Dreißigjährige Krieg ist vorbei, die Pest wütet in der Region, die Aufklärung steckt noch in den Kinderschuhen, Traditionalisten und Freidenker prallen hart aufeinander, der Klerus folgt dabei seinen ganz eigenen, grausamen Gesetzen.
Hier wird die junge Gutstochter Anna Voigt angeklagt, ihr kleines Mädchen direkt nach der Geburt ermordet zu haben. Diese beteuert vehement ihre Unschuld und der zu Rate gezogene Arzt Dr. Schreyer ist geneigt, ihr Glauben zu schenken. Die sogenannte Lungenschwimmprobe soll Aufschluss geben, eine neue, noch nicht anerkannte Methode zur Bestimmung der Lungentätigkeit des Kindes außerhalb des Mutterleibes. Doch ruft diese auch große Skeptiker auf den Plan und ein Ringen beginnt, um die Wahrheit und noch viel mehr um die Vorherrschaft zwischen Medizin und Kirche, einem Pfarrer und einem Anwalt – schlicht zwischen Männern, die sich an der eigenen Stellung und Macht ergötzen, diese um jeden Preis zu untermauern versuchen.
Schnell ist klar, das hier ist viel mehr als nur ein Roman, sowohl inhaltlich als auch in der Bedeutung dessen für den Autor, beruht er doch auf wahren Begebenheiten. Das Buch ist in vier Teile aufgeteilt, die sich unterschiedlicher Stile und Tonalitäten bedienen, vom Fiktiven ins Reale springen und auch vor sehr persönlichen Einblicken in die Gefühlswelt des Autors nicht Halt machen. Das Schicksal Annas hat sich über Jahre der Recherchen mit dem Leben, den Gedanken Renbergs verknüpft und lässt sich nicht mehr lösen. Dies führt zu einem sehr intensiven Leseerlebnis, das mir noch lange im Gedächtnis bleiben wird.
Linda Bulut
ist 41 Jahre alt und leidenschaftliche Leserin, seit sie denken kann. Mit einer kurzen Unterbrechung ist sie seit 2014 im Buchhandel tätig, seit September 2023 in der zauberhaften, inhabergeführten Buchhandlung Ida von Behr im Herzen von Volksdorf. Ihre Begeisterung gilt der guten Literatur – ganz gleich, ob es sich um aktuelle Neuerscheinungen oder versteckte Perlen aus der Backlist handelt. Besonders schätzt sie den inspirierenden Austausch mit anderen Buchliebhaber*innen, ob im Geschäft oder auf Instagram, wo sie unter dem Namen @readiculous.me inzwischen schon im fünften Jahr bloggt und ihre Lesefreude und Empfehlungen mit einer wachsenden Community teilt. Sie lebt bei Hamburg, fühlt sich aber ihrer Nachbar-Hansestadt Bremen auch sehr verbunden.
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