Karosh Taha: Die Leichen im europäischen Unterbewusstsein

Alle Menschen Schriftzug im Park der Menschenrechte
© Rike Oehlerking

Franz Kafkas In der Strafkolonie

Von Karosh Taha

Tagebucheintrag vom 21. Juni, 1913:

„Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe. Aber wie mich befreien und sie befreien, ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als in mir sie zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar.“

Ich bin überzeugt, Kafka kommt aus der Zukunft. Nur er hatte die Sensibilität, sich das Schlimmste vorzustellen, zu dem Menschen fähig sind: Die Folter als Methode der Selbsterkenntnis. Nur er hatte die Sensibilität, die eigene Grausamkeit zu entlarven, an der er am allermeisten litt.

Kafka kommt aus der Zukunft: Verbrenne meine Manuskripte, bevor sie von den Nazis verbrannt werden, könnte Kafka gesagt haben, als er seine Texte und damit seine Innerlichkeit seinem Freund Max Brod anvertraute, ihn, Kafka, zu verbrennen. Brod wusste: Niemand darf verbrannt werden, auch nicht als Text.

In der Strafkolonie wird als prophetische Erzählung über die Shoah interpretiert, so erklärt Max Frisch bei einer Poetikvorlesung am City College of New York: „Ausschwitz ist noch und noch beschrieben worden, und wenn jemand käme, der einiges davon gelesen hat und ehrlich genug wäre, um zu sagen, dass er sich Auschwitz nicht vorstellen kann, so würde ich ihm eine kürzere Erzählung von Kafka geben: In der Strafkolonie. Die Wahrheit kann man nicht beschreiben, nur erfinden.“

Das ist richtig. Die Mechanik der Strafkolonie beschreibt auch heutige Ereignisse mit einer prophetischen Präzision – ich denke dabei an die Ungeheuerlichkeit, die wir Drohnenkrieg nennen und viel zu wenig benennen, ich denke an Abu Ghraib.

Abgesehen davon: Kafka schrieb diese Erzählung 1914, zehn Jahre nach dem ersten Genozid des zwanzigsten Jahrhunderts, begangen von deutschen Kolonialherren an den Herero und Nama. Der Text ist im wahrsten Sinne des Wortes durchströmt vom Blut der Opfer des Kolonialismus – trotz des kafkaesken Abstraktionsgrades ist die Geschichte sehr deutlich. Wie bei den meisten Kafka-Texten folgt auch hier die Syntax der unmöglichen Architektur der Gebäude in seinen Romanen, zum Beispiel das labyrinthische Gerichtsgebäude oder das Dachzimmer des Malers in Der Prozess. Georges Bataille beschreibt jedes Wort als eine Falle.

Mich erstaunen die Interpretationsansätze der Literaturwissenschaftler*innen im deutschsprachigen Raum. Obwohl sie alle schlüssig klingen, weil sie hermeneutisch und damit risikofrei sind, andere biographisch und damit langweilig, ignorieren sie den kolonialgeschichtlichen Aspekt des Textes und wie sehr Kafkas Erzählung sich von der Tradition solcher Geschichten unterscheidet.

Sind Figuren – ich meine damit auch die Figur der Hinrichtungsmaschine – nur Münder, durch die wir sprechen oder sind sie alles, was wir von uns abstoßen? In Kafkas Fall trifft beides zu, gleichzeitig versteht er die Worte als Schwerter, die ihn verletzen, wenn er schreibt und die Schnittwunden gibt er an Leser*innen weiter. Wenn das Schreiben ihn zerreißt, dann wird er schreiben, weil das Nicht-schreiben und damit das Verschweigen und Begraben der Ungeheuerlichkeiten unerträglicher ist.


Portrait-Foto der Autorin Karosh Taha
© Havin Al Sindy

Tagebucheintrag vom 2. Juli, 1913:

„Geschluchzt über den Prozeßbericht einer dreiundzwanzigjährigen Marie Abraham, die ihr fast dreiviertel Jahre altes Kind Barbara wegen Not und Hunger erwürgte, mit einer Männerkrawatte, die ihr als Strumpfband diente und die sie abband. Ganz schematische Geschichte.“

Toni Morrison erzählte im Interview mit dem Paris Review, wie sie mit sich gerungen hat, als sie den Kindermord in Beloved schreiben musste. Um sich nicht die Hände blutig zu machen, kürzte sie den Tod auf einen Satz, und dieser sollte sprachlich untertrieben zu der Tat sein, damit die Sprache sich nicht an dem Verbrechen schuldig macht.

Das ist das Dilemma der Schriftstellerin; mit jedem Satz mache ich mich schuldig am Leid, das ich beschreibe – als würde ich in Gedanken ein Verbrechen begehen. Wie könnte ich es wagen, einem Menschen auf dem Blatt Leid zuzufügen, geschweige denn zu foltern und umzubringen.

Im Schreiben foltere ich und werde gefoltert.

Auffällig bei der Erzählung In der Strafkolonie ist die lange, und auch mit Genuss und Stolz vorgetragene Beschreibung der Hinrichtungsmaschine durch den Offizier. Karl Heinz Bohrer versteht die Beschreibung als Teil der Folter; wie aus vielen Folterberichten zu entnehmen ist, werden vor dem Gewaltakt die Instrumente dem Opfer vorgestellt – an dieser Stelle dient die Sprache als Folterinstrument.

In einem Brief an Milena schreibt Kafka: „Weißt du wenn ich so etwas hinschreiben will wie das folgende, nähern sich schon die Schwerter, deren Spitzen im Kranz mich umgeben, langsam dem Körper, es ist die vollkommenste Folter: wenn sie mich zu ritzen anfangen, ich rede nicht vom einschneiden, wenn sie mich also nur zu ritzen anfangen ist es schon so schrecklich daß ich sofort, im ersten Schrei, alles verrate, Dich, mich, alles.“

Die Sprache und ihre Verwirklichung durch die Schrift ist für Kafka gewaltvoll; in der Erzählung wird sie genutzt, um die Folter zu vollziehen.

Peter-André Alt schreibt: „Die Schrift der Literatur und die Schrift der Egge, von der die Erzählung spricht, gleichen sich darin, daß sie Folterwerkzeuge bilden. Der Autor verhält sich zu ihnen […] in einer zweifachen Rolle als Täter und Opfer. Indem er das Werkzeug der Folter führt, verwirklicht er den Exzeß der Akkumulation an sadistischer Phantasie, der sich aber zugleich auf ihn als Zielpunkt richtet.“

Das ist die eine Ebene. Die andere Ebene ist der Umgang mit Folter aus ethischer Sicht; die Rechtfertigung und Moralisierung von Folter als Mittel zu einem höheren Zweck, zum Beispiel: Ehre deinen Vorgesetzten. Das ist nämlich der Urteilsspruch und gleichzeitig das Todesurteil, das dem Mann in einer zwölfstündigen Prozedur in die Haut gestochen wird, bis er verblutet.


Tagebucheintrag 6. August, 1914 [I]:

„Ich entdecke in mir nichts als Kleinlichkeit, Entschlußfähigkeit, Neid und Haß gegen die Kämpfenden, denen ich mit Leidenschaft alles böse wünsche.“

Es gibt in der Geschichte viele Hinweise darauf, dass der europäische Kolonialismus mit Blut von Nicht-Europäer*innen durchtränkt ist. Der Kafka-Biograf Reiner Stach verkennt die Rollen, wenn er schreibt „die Figur des europäischen Reisenden“ würde  „teils fasziniert, teils angewidert die sadistische Strafpraktiken einer zivilisationsfernen Insel besichtig[en].“

Die Zivilisation der Europäer*innen ist die Barbarei, ist der Sadismus, unter dem andere leiden – das ist die Weitsichtigkeit Kafkas und die Kurzsichtigkeit seiner Exeget*innen. Die Lüge der westeuropäischen Aufklärung führte in der Geschichte und bis heute dazu, Menschen aus anderen Räumen zu demütigen, zu degradieren, zu dehumanisieren und schließlich zu vernichten.

Die europäische Begründung für das inhumane Vergehen in den Kolonien wurde mit dem Begriff „Tropenkoller“ zusammengefasst, es bedeutete eine „Hypertrophie des Selbstbewusstseins“, eine „Erkrankungsform des sozialen Instinkts“, „plötzliche Losgebundenheit von allen Rücksichten auf Sitte und Sittlichkeit“, „das Fehlen der gesellschaftlichen Kontrolle und das Gefühl der Überlegenheit über die niedere Rasse.“ Die Definition des Begriffs stammt von einem Rassisten und in diesem Fall weiß der Rassist sehr gut, warum andere Rassist*innen sich so verhalten, wie sie es tun. Ihr Selbstbewusstsein speist sich aus dem Glauben ihrer Überlegenheit, sie erkranken nicht: die Okkupation ist ein Zeugnis ihrer moralischen Verderbtheit, die Rücksicht auf Sitte und Sittlichkeit wird nur durch die Farce der Gesellschaft aufrechterhalten und die Menschen in diesen tropischen Orten werden nicht als solche anerkannt, daher müssen die Weißen sich nicht vor ihnen moralisch rechtfertigen.

Dieses Verhalten erinnert an die Folter der US-amerikanischen Soldat*innen an den Gefangenen des Abu Ghraib Gefängnisses. Nur europäische Augen, nur der Blick der Europäer*innen gilt als moralischer Referenzrahmen. Auch nach dem medialen Skandal gab es keine Konsequenzen für die Soldat*innen, nicht wie in Kafkas Erzählung. Denn es ist wichtig zu begreifen: Wer die Menschenrechte geschrieben hat, ist auch nur von sich ausgegangen. Denn Menschenrechte sind ein leeres Versprechen, ihre Universalität ist eine Behauptung, die keine Realisierung erfährt. Die vergangenen Kriege der USA und Europas werden mit Menschenrechten begründet, vor der eigenen Bevölkerung rechtfertigt. Die EU will künftig Waffen zur Wahrung der Stabilität, der Sicherheit und des Friedens an Drittstaaten ausliefern, sie nennen es: European Peace Facility. Um wessen Frieden geht es hier? So wie Kolonialismus damit begründet wurde, den Wilden Zivilisation zu bringen, so bringt die heutige europäische Politik den Nicht-Europäer*innen Frieden. Europäische Außenpolitik ist durchzogen von Narrationen der Selbstveredelung. Die Außengrenzen Europas erzählen eine andere Geschichte von Europa, von diesen Außengrenzen betrachte ich Europa und nur am äußersten Rand aus lässt sich klarsehen und erzählen.

Frisch sagte in seiner Vorlesung, dass es etwas anderes gibt, dafür ist Kunst da, nämlich als Gegen-Position zur Macht. „Schreiben als Notwehr gegen die Erfahrung der Ohnmacht.“ Nur das Schreiben bleibt mir: Mit der schärfsten Zunge muss gegen die Pervertierung von Sprache vorgegangen werden, muss die Behauptung von Frieden als die Wirklichkeit von Krieg entlarvt werden.


Tagebucheintrag vom 23. Okt. 1917:

„Erkenne dich selbst, bedeutet nicht: Beobachte dich. Beobachte dich ist das Wort der Schlange. Es bedeutet: Mache dich zum Herrn deiner Handlungen. Nun bist du es aber schon, bist Herr deiner Handlungen. Das Wort bedeutet also: Verkenne dich! Zerstöre dich! Also etwas Böses und nur wenn man sich sehr tief hinabbeugt, hört man auch sein Gutes, welches lautet: ‚um dich zu dem zu machen, der du bist.‘“

Kafka schreibt aus der Tiefe, aus dem Abgrund, aus dem Unterbewusstsein, nicht nur über seine, sondern auch über das europäische Unterbewusstsein. Den anderen als wild, unzivilisiert, amoralisch zu sehen, bedeutet die eigene Amoralität in den anderen zu projizieren. Die Strafe, die für den anderen angemessen ist, wird sich am Ende auf einen selbst richten. Selbsterkenntnis hat nur das Böse, schreibt er.

Die Geschichte des Offiziers und damit die Geschichte der Strafkolonie, ihre Entstehungslegende fängt mit dem alten Kommandanten an, so wie die Geschichten dieser kolonialisierten Länder immer nur mit der Ankunft der weißen Menschen anfangen. Den Titel interpretiere ich so: Die Kolonie an sich ist die Strafe, es geht nicht etwa um eine Strafe in einer Kolonie.

Was Stach als bloße Kulisse interpretiert, wird vom englischsprachigen Germanisten Paul Peters als das Offensichtliche erkannt: „Is there, one might ask, an actual historical topography which could ever match the infernal landscape of Kafka's tale? The answer to that question may well be yes: the landscape of colonialism.”

Die europäische Kolonialvergangenheit, so Peters, die als Leiche in den verbotenen Kammern des Unterbewusstseins gammelt, entblößt Kafka, wie er auch sonstige Unheimlichkeiten freilegt.

Der ganze Prozess wird dem Forschungsreisenden erklärt, in seiner Sprache, aber dem Verurteilten verwehrt, denn, so der Grundsatz des Offiziers: „Die Schuld ist immer zweifellos.“

Der Verurteilte und Reisende sind Spiegelbilder, ihre Blicke folgen den Bewegungen des Offiziers, beide hören gespannt zu, mit dem Unterschied, dass der Reisende versteht, was mit dem Verurteilten geschehen wird, und es nicht verhindern wird und der Verurteilte nicht versteht und es deswegen nicht verhindern kann.

Für den Offizier ist der Verurteilte schuldig geboren, deswegen steht die Strafe in keinem Verhältnis zu der Verfehlung. Die Hybris dieses Offiziers wird in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Geschichte fortgeschrieben, wenn Peter-André Alt schreibt: „Die archaische Strafe der Folter, die dem Leib Erkenntnis im Medium des Schmerzes einschreibt, erinnert an die Praxis von Barbaren, deren Ziel es ist, die ‚Schwachen‘ zu vernichten.“

Wie sehr kann man Kafka eigentlich missverstehen. Der Offizier, der Kommandant und der Reisende sind alles Europäer, sie unterhalten sich in einer gemeinsamen Sprache, während die Bestraften eben ihre Sprache nicht sprechen. Die Barbaren sind hier ganz klar die Europäer, die einen außergewöhnlichen Apparat gebaut haben, um Menschen in einer zwölfstündigen Folter zu töten. Es ist Teil der europäischen Aufklärung, sich nicht als die Barbaren zu sehen, diese Überheblichkeit ist Teil der Kolonialgeschichte gewesen und Teil heutiger Außenpolitik.

Mich erinnert auch die Schrift mit den „Verzierungen“, wie es heißt, an die Narben auf ausgepeitschten Rücken Schwarzer Sklav*innen. Ein Filzstumpf zum Verstopfen des Mundes, um Schreie und das Zerbeißen der Zunge zu verhindern, erinnert mich an „the bit“, einem Mundstück, das bei Sklav*innen angebracht wurde. Toni Morrison beschreibt es als etwas schrecklich Widerwärtiges, weil man diese Gegenstände der Folter nicht kaufen kann, sondern bauen muss, und die Zeit, die man sich zum Bauen nimmt, um dem anderen wehzutun, das machte die Brutalität der Folter sehr persönlich und intim. Die Hinrichtungsmaschine, vom Kommandanten konzipiert und gebaut, sticht das individuelle Urteil in den Körper; die Folter ist damit eine persönliche und emotionale Angelegenheit, aber durch den juristischen Charakter eines Prozesses als ordnungsgemäß legitimiert.

Dass der Verurteilte keine Gelegenheit bekommt, sich zu verteidigen, ist Teil dieses Verbrechens.

Obwohl die langsame Hinrichtung als ein gesellschaftliches Ritual zelebriert wird, fehlt das Publikum seit dem Tod des Kommandanten und der Offizier führt sein Erbe alleine fort. Doch wieso tut er das, wenn die Folter dadurch ihren gesellschaftlichen Zweck verfehlt? Es ist die Lust an der Vernichtung eines Menschen durch die Maschine. Jede technologische Entwicklung bedeutet auch eine technologische Tötung, wie ist das Erfindungsreichtum des Menschen sonst zu begreifen.

Als Individuum kann und muss ich mich von der gesellschaftlichen Moral freimachen, wenn diese Moral die Vernichtung anderer Menschen rechtfertigt.

Nietzsche, zitiert nach Peter-André Alt, schreibt: „Es scheint, dass es bei den Moralisten einen Hass gegen den Urwald und gegen die Tropen giebt? Und dass der ‚tropische Mensch‘ um jeden Preis diskreditiert werden muss, sei es als Krankheit und Entartung des Menschen, sei es als eigne Hölle und Selbst-Marterung.“

Aus den biographischen Angaben wissen wir, dass Kafka Nietzsche gelesen hatte, obwohl ich glaube, dass er die Grausamkeit auch selbst verstanden hat.

Stach schreibt, die Erzählung ließe durch die „kalte Distanz“ „den Leser vor sich selbst erschauern“. Nicht die Distanz ließ mich erschaudern, sondern die Nähe, die Greifbarkeit des Ereignisses und die Wahrscheinlichkeit der historischen Wiederholung. Sie zeigt mir aber auch, als Individuum kann und muss ich mich von der gesellschaftlichen Moral freimachen, wenn diese Moral die Vernichtung anderer Menschen rechtfertigt. Kafka beweist, dass dies möglich ist.


Tagebucheintrag 6. August, 1914 [II]:

„Patriotischer Umzug. Rede des Bürgermeisters. Dann Verschwinden, dann Hervorkommen und der deutsche Ausruf: ‚Es lebe unser geliebter Monarch, hoch!‘ […] Ich stehe dabei mit meinem bösen Blick. Diese Umzüge sind eine der widerlichsten Begleiterscheinungen des Krieges.“

Unter diesem Eindruck stehend schreibt er im Oktober In der Strafkolonie, ein anti-militaristisches Stück in einer Zeit, in der Obsession und Ehrgefühl für das Militär, Pflichtgefühl gegenüber dem Vaterland, Kriegsbegeisterung und die gefährlichste Art der Männlichkeit zelebriert wurden. Während andere Schriftsteller anfingen, die unterdrückten Menschen in den Kolonien mit Tieren zu vergleichen, ihre Moral, ihre Gesellschaftsformen als primitiv, falsch und für nichtig zu erklären, steht Kafka mit dem bösesten Blick ihnen gegenüber und betrachtet sie und schreibt über sie.

Während die Ernst Jüngers ihre Gewaltphantasien von der Vernichtung anderer Menschen und ihre Romantisierung des Krieges in schwülstige Literatur ergießen und damit nichts anderes taten als mit Literatur die kriegstreibende Politik zu affirmieren, konnte Kafka sich dieser Menschenverachtung entziehen, als blickte er aus einer hundertjährigen Distanz auf das Geschehen.

Wenn Schriftsteller*innen eine Aufgabe haben, einen Auftrag, dann diesen: Gegenüber der Sprache, die herrscht, immer in Abstand zu stehen, sich nicht von der Sprache vereinnahmen zu lassen, nicht in der Sprache zu stehen.

Künstler*innen können gefährlich sein, wenn sie sich mehr vorstellen, als da ist. Weil sie das, was geschaffen wurde, in Frage stellen. Weil jede Imagination, die über die Realität hinausgeht, die Realität in Frage stellt. Wenn Schriftsteller*innen eine Aufgabe haben, einen Auftrag, dann diesen: Gegenüber der Sprache, die herrscht, immer in Abstand zu stehen, sich nicht von der Sprache vereinnahmen zu lassen, nicht in der Sprache zu stehen. Frisch nennt es die Herrschaftssprache, die uns umgibt wie das Wasser den Fisch.

„Diese Sprache, die aus einer Summe von Redensarten besteht und Klischees, geprägt von den Interessen der herrschenden Schicht, diese Sprache, die wir in der Schule lernen als die einzig richtige Sprache, ist aber nicht unbedingt die Sprache unserer Erfahrung. Sie entfremdet uns also von unsern Erfahrungen. Viele erleben nicht so, wie diese Sprache es behauptet. Wie man es sagt. Da viele aber nicht sagen können, wie sie erleben, fühlen sie sich verpflichtet, so zu erleben, wie diese Herrschaftssprache es der schweigenden Mehrheit vorschreibt. Wie man erlebt.“

Die Flucht in die Prosa ist eine Flucht vor der Herrschaftssprache – Literatur bietet Revolte; sie ist die Verweigerung, ein Teil dieser Herrschaftssprache zu werden.

Das Paradoxon dieser Maschine, nämlich inhumane Bestrafung durchgeführt von einer Maschine, die Zeugnis einer Hochzivilisation ist, als die sich Europäer*innen begreifen, lässt sich leicht beheben, indem man entweder die Bestrafung als angemessen betrachtet oder die europäische Zivilisation als unmoralisch. In der Strafkolonie ist eine eindeutige Antwort.

Mit Frisch gesprochen: „Ein Roman … ist eine Klage; jede Klage geht davon aus, dass das Leben anders sein sollte. […] Was unsere Literatur liefert: das Bekenntnis zur Trauer, die Einladung zum Protest. Die Literatur liefert (implizite) die Utopie, dass Menschsein anders sein könnte.“


Tagebucheintrag 2. Dezember 1914:

„Nachmittag bei Werfel mit Max und Pick. ‚In der Strafkolonie‘ vorgelesen, nicht ganz unzufrieden, bis auf die überdeutlichen unverwischbaren Fehler.“

Literaturverzeichnis

 

Franz Kafka: „In der Strafkolonie“, in: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, Frankfurt 2006, S. 164-198.

Paul Peters: “Witness to the Execution: Kafka and Colonialism”, in:  Monatshefte  Vol. 93, No. 4,  2001, pp. 401-425. [https://www.jstor.org/stable/30161917]

Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen 1910-1915, Frankfurt 2002.

Peter-André Alt: Ästhetik des Bösen, München 2011.

Max Frisch: Schwarzes Quadrat. Zwei Poetikvorlesungen, Frankfurt 2008.

Karosh Taha

wurde 1987 in der kurdischen Stadt Zaxo geboren, lebt und schreibt im Ruhrgebiet. Ihr Debütroman erschien unter dem Titel Beschreibung einer Krabbenwanderung 2018 bei DuMont. 2020 erschien ihr zweiter Roman Im Bauch der Königin. Für ihr Werk erhielt Karosh Taha 2018 den Förderpreis des Landes NRW, außerdem war sie bereits für den Ulla Hahn Preis und den Kranichsteiner Förderpreis nominiert. 2021 erhält sie das Stipendium Tapetenwechsel – Ein deutsch-tschechischer Literaturaustausch.

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