Catalin Dorian Florescu: Im Osten viel Neues

Würde Schriftzug Rhododendronpark
© Rike Oehlerking

Im Osten viel Neues

Von Catalin Dorian Florescu

Im Osten nichts Neues, hätten manche Westeuropäer bis vor Kurzem gesagt: aus Rumänien kommen die Bettler, aus Polen die Autodiebe und aus der Ukraine weiß Gott was, aber bestimmt nichts Vernünftiges. Der Osten: rückständig, korrupt, bankrott. Als ob sich jedes osteuropäische Land auf eine andere Sünde spezialisiert hätte, eine andere Gaunerei, ein anderes Verbrechen.

Es lässt sich nicht verleugnen, dass manche Diebe, Bettler, Zuhälter, Mafiosi aus dem Osten kommen. Heute aber sind wir Zeugen einer anderen Wirklichkeit, denn im Osten ist sehr wohl viel Neues los. In der Ukraine verteidigen mutige Menschen mit der Waffe in der Hand auch unsere Werte. Studenten, Arbeiter, Bauern, Beamte, Frauen und Männer lernen zu schießen, stellen sich den Panzern in den Weg, versuchen ihre Angst zu überwinden und müssen doch immer damit rechnen, dass sie sterben.

Ihr Land ist unser erster Verteidigungsposten gegen den erneuten Zusammenbruch der Zivilisation in Russland, der Barbarei. Ein Zusammenbruch, der nicht plötzlich kommt; diese Chronik des angekündigten moralischen Kollapses Russlands reicht weit zurück, schon in der Zarenzeit war das imperiale Gehabe eine Konstante, während die mittellosen Bauern kaum mehr als Leibeigene und auszubeutende Masse waren.


In der Sowjetunion wurde einiges als zivilisatorische Errungenschaft gefeiert. Bei näherem Hinsehen war es nur frischer Anstrich auf einem Gebäude aus Gewalt, Totalitarismus und Gulag. Auf einen Puschkin oder Dostojewski im 19. Jahrhundert, auf einen Bulgakow, Rachmaninow oder Gagarin kommen Hunderttausende von Ermordeten, Vertriebenen, zu Zwangsarbeit Verurteilten, Gefolterten und Verhungerten, kommt die Niederschlagung freiheitlicher Bewegungen in Ungarn und der Tschechoslowakei. Es kommt ein Massenmörder, Stalin, und ein ganzer Reigen von Tätern, aber von noch viel mehr Opfern. Die Gewalt, die dann in die Welt getragen wurde, wurde zuerst gegen das eigene Volk eingesetzt. Die ersten Leidtragenden waren die Russen selbst.

In den fünfziger Jahren, den Jahren des kommunistischen Terrors gegen die eigene Bevölkerung in Rumänien, meiner Heimat, benutzten die Verhöroffiziere des Geheimdienstes dieselben Foltermethoden wie das sowjetische NKWD, das sie entwickelt hatte. Der Sadismus war unter den Kommunisten ein begehrter russischer Exportartikel.

Und nun die Putin-Ära: Städte wie Grosny oder syrische Städte wurden in Schutt und Asche gelegt. Ein Flugzeug der Malaysia Airlines wurde von einer russischen Rakete getroffen, die 298 Menschenleben auslöschte. Und wenn man in Russland seinen Verstand benutzt und für humanitäre Werte einsteht, wird man weggesperrt oder gleich neben den Mauern des Kremls umgebracht, wie Boris Nemzow. Diesmal braucht es keine Folterkenntnisse mehr, es reicht die 24-Stunden-Propaganda auf allen staatlichen Fernsehkanälen, um die Bevölkerung in der Hand zu haben.


Ein Volk, das noch an sowjetischen Phantomschmerzen leidet, träumt sich groß und wird von einem perfiden Regime gefügig gemacht, das ihm gibt, was es gerne hört: jede Menge Selbstlügen. Es plustert sich auf, und die Federn sind Kanonen. Eine Diktatur ist nie von einem einzigen Despoten erschaffen, es braucht viele Mitwisser, Mittäter und solche, die sich gerne verführen lassen. Viele von ihnen werden danach behaupten, sie hätten nichts gewusst. Vorgemacht haben es die Deutschen nach ihrem eigenen moralischen Debakel im Zweiten Weltkrieg. Zum Glück gibt es unter den Russen auch Ausnahmen: Jene, die die gefährliche Maskerade durchschauen, kehren ihrer Heimat den Rücken.

Aber wir dürfen nicht mit einem Finger auf Russland zeigen, ohne zu wissen, dass drei andere Finger auf uns zeigen. Zu lang ist die Liste europäischer Verbrechen in der Weltgeschichte. Wir sind Nachfahren von Ausbeutern, Kriegstreibern, Rassisten, Sklavenhändlern ebenso sehr wie wir Nachfahren von Pazifisten, Humanisten oder Demokraten sind. Heute verteidigen die Ukrainer das Beste in uns, unsere zentrale Errungenschaft: die Würde des Menschen. Heute ist die vermeintliche europäische Peripherie das Zentrum. Mit jedem Ukrainer, jeder Ukrainerin, der und die zur Waffe greift, wird auch die Frage an uns lauter: Wie weit würden wir gehen, um unsere Würde zu verteidigen?

Bevor wir auf den russischen Putin zeigen, dürfen wir unsere eigenen kleinen Putins nicht vergessen.

Zu lange konnten wir uns der Illusion hingeben, unser friedliches Leben sei gesichert und die Demokratie eine ungefährdete Tatsache, die zum Nulltarif zu haben wäre. Sie ist es nicht, und es gibt nicht nur die Putins draußen in der Welt; Volksverführer, Blender, Lügner haben sich längst inmitten unserer Gesellschaften eingenistet. Bevor wir auf den russischen Putin zeigen, dürfen wir unsere eigenen kleinen Putins nicht vergessen. Auch sie zersetzen nicht nur die Würde jener, die sie angreifen – Migranten, ausländische Mitbürger z.B. –, sondern auch unsere eigene. Wann werden wir aus unserer Paralyse erwachen? Unsere Werte müssen nicht nur an der ukrainischen Front verteidigt werden, sondern auch hier, unter uns. Dafür braucht es keine Kalaschnikow, aber Mut und Entschlossenheit.


In meinem Roman Der Feuerturm steht Bukarests Beobachtungsturm gegen Brände – einst das höchste Gebäude der Stadt – seit 100 Jahren unerschüttert da, ein Zeuge vieler wirklicher, aber auch ideologischer Brände. Stumm hat er die Grausamkeit der rumänischen Faschisten erlebt und die Besatzung durch die Rote Armee. Stumm hat er die Menschen durch die bleiernen Jahre des Kommunismus begleitet. Auf ihn stiegen die Leute, wenn sie den Horizont sehen wollten, bevor die Kommunisten den Horizont mit unendlich vielen Plattenbauten verdeckten.

Der Turm war auch da im Dezember 1989, als nur ein paar Hundert Meter von ihm entfernt das Volk, das gegen die Diktatur aufbegehrt hatte, Barrikaden errichtete. Er steht für mich aber auch für etwas anderes. Er ist eine Metapher für die Widerstandskraft des Menschen, für das Rückgrat, die Mitte, den Kern der Existenz. Er schützt, wenn man sich hinter seinen dicken Mauern versteckt, aber er muss auch verteidigt werden. Die Rumänen mussten diese schmerzhafte Erfahrung 1989 machen. Die Ukrainer machen sie jetzt.

Doch wo stehen unsere Feuertürme? Wie fragil sind sie? Was muss gemacht werden, um sie zu sichern?


Portrait Catalin Dorian Florescu
© Evi Fragolia

Catalin Dorian Florescu

ist 1967 in Rumänien geboren und hat seine Kindheit in der kommunistischen Diktatur verbracht. 1982 schaffte es die Familie, sich in den Westen abzusetzen. Seitdem wohnt der Autor in Zürich, wo er Psychologie studierte. Für mehrere Jahre arbeitete er mit Drogenabhängigen und ließ sich in Gestalttherapie ausbilden. Seit Dezember 2001 lebt er als freier Schriftsteller. Im Jahr 2019 war er als „literarischer Matrose“ auf der Donau unterwegs. Er hat u.a. sieben Romane geschrieben – eine Auswahl: Wunderzeit, Zaira, Jacob beschließt zu lieben, Der Mann, der das Glück bringt, bis auf das Erste alle im CH Beck Verlag. Sein aktuellstes Werk heißt Der Feuerturm (2022 CH Beck). Wichtigste Literaturpreise: Schweizer Buchpreis 2011, Anna Seghers-, Josef von Eichendorff- und Andreas Gryphius-Literaturpreis. In Rumänien wurde ihm die Kavaliersmedaille für kulturelle Verdienste verliehen.

Weiterlesen:

„Unerwartungen“: Lilli Rother

Was erwartest du vom Leben, von der Stadt? In ihrem Text "Unerwartungen" stellt sich Studentin Lilli Rother diesen Fragen. Entstanden ist er im Seminar "Kreatives Schreiben zu Kunst" und wurde zuerst auf dem Studierendenblog Blogsatz veröffentlicht. Schau mal rein, ob er deine Erwartungen erfüllt!

„Ein Schatz“: Die Bibliothek Gonzalo Rojas

Mit frischem Anstrich, topmodern und neu sortiert präsentiert das Instituto Cervantes am Welttag des Buches seine Bibliothek Gonzalo Rojas. Direktorin Mila Crespo Picó hat Annika Depping auf eine Tour durch die Bibliothek mitgenommen.