Lesetipp: Tatjana Vogel empfiehlt

Cover des Buches "Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron" von Yade Yasemin Önder

Wir schlagen den Roman auf und finden uns im Jahr nach Tschernobyl wieder. Rasend schnell zieht uns Yade Yasemin Önder in eine Welt, in der Hannelore Kohl Kuchen backt und die Spice Girls große Vorbilder sind, die Wände ochsenblutrot gestrichen werden und von Möbeln über den Ghettoblaster bis zur Katze alles aus dem Fenster fliegt

Eine Gruppe von 5 Freundinnen gibt sich Halt in diesem Tumult und erlebt gemeinsam, was es bedeutet, erwachsen zu werden. Sie kämpfen gegen ihre eigenen Körper, suchen nach Kontrolle und Halt, während sich um sie herum alles verändert und die eigenen Biografien nebenbei auch noch Beachtung finden wollen.

Diese beschäftigen auch die erwachsene Erzählstimme, sie schwimmt und sucht nach einem nicht näher bestimmten Ort, streift Istanbul, Odessa, Fehmarn, atmet Meeresluft. Sie unterhält sich mit ihrem Symptom, das sie immer begleitet – nur warum es überhaupt da ist, steht zur Debatte. Zwischenzeitlich tauchen wechselnde Männer auf, zu denen sich dieselbe Frage stellt. Wir werden Teil einer Suche nach Genesung von Familie und Vergangenheit, ohne dabei auf simple Antworten gestoßen zu werden.

Es ist ein Strudel von Geschichten, in dem wir versinken. Yade Yasemin Önder schreibt und reimt, stellt Erinnerung und unmittelbares Erleben der Protagonistin nebeneinander, bringt uns zum Lachen – bis uns das Lachen im Halse stecken bleibt, weil der Vater in die Kreissäge fällt. Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron ist auch ein Spiel mit Sprache, die versucht, den vielen Strängen eines Lebens zu entsprechen. Dabei wird deutlich, wie vieles zusammenhängt und nie versucht, Dinge in Zusammenhang zu bringen, die gleichzeitig und widersprüchlich nebeneinanderstehen.

Ein großartiger, intelligenter Roman, der fasziniert und schillert bis zur letzten Seite.

WIR WISSEN, WIR KÖNNTEN, UND FALLEN SYNCHRON | Yade Yasemin Önder | ROMAN Kiepenheuer & Witsch | Köln 2022 | 256 S. | €20,00

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Tatjana Vogel

hat 2017 ein Praktikum bei der globale° gemacht und ist einfach nicht mehr gegangen. Sie fuhr Autor*innen von a nach b, gestaltete das Programmheft, kämpfte mit der Homepage und ließ sich jedes Jahr aufs Neue von den vielen Facetten grenzüberschreitender Literatur begeistern. Seit 2021 lebt sie in Berlin und ist nicht mehr in die ganzjährige Planung involviert. Während des Festivals moderiert sie und ist für den literarischen Spaziergang zuständig.

Foto von Tatjana Vogel
© privat

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