Die spanische Autorin Sara Mesa ist am 23. Mai zu Gast im Bremer Kulturzentrum Kukoon und liest aus ihrem 2022 erschienenen Roman Die Familie, der seit diesem Jahr in deutscher Übersetzung vorliegt. Im Vorfeld hat Sara Mesa mit Stephanie Schaefers über familiären Zusammenhalt gesprochen – und darüber, was passiert, wenn dieser sich zu ungutem Schweigen verwandelt und durch psychologische Manipulation missbraucht wird.
Sara Mesa, in Ihrem Roman Die Familie entfaltet sich hinter einer scheinbar intakten Fassade nach und nach das Bild einer zutiefst gestörten Familienstruktur. Was hat Sie dazu inspiriert, diese Art von Familienbild zu entwerfen?
Bei allem, was ich schreibe, stütze ich mich auf die Beobachtung meiner Umgebung und/oder meine eigenen Erfahrungen, und Die Familie bildet da keine Ausnahme. Obwohl es sich um einen Roman handelt, der fiktionale Elemente enthält, basiert die Geschichte weitestgehend auf meiner eigenen Kindheit und Jugend.
Spiegeln sich in der Familie Ihres Romans und deren Alltag, der sich rund um die Figur des Vaters Damián dreht, auch Strukturen der spanischen Gesellschaft wider?
Ich bin mir nicht sicher, ob es sich dabei um spezifische Strukturen der spanischen Gesellschaft handelt. Zur Zeit der erzählten Handlung – den 1970er bis 1990er Jahren – wäre eine Familie wie die, die ich beschreibe, in Spanien untypisch gewesen. Das spezifisch autoritäre Auftreten des Vaters erscheint mir universeller.
Glauben Sie, dass sich die Rolle der Familie und der familiäre Zusammenhalt in Spanien in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert haben? Inwiefern wollten Sie mit Die Familie mit traditionellen Familienidealen brechen oder diese infrage stellen?
Mir ging es darum, zu zeigen, wie “Autoritarismus” und Manipulation durch psychischen Missbrauch in verschiedenen Formen auftreten können, auch in Varianten, die auf den ersten Blick aushaltbar scheinen. Der Vater in diesem Roman ist weltoffen, fortschrittlich und pazifistisch. Gandhi steht für seine Ideale. Und doch ist dieser Vater eine Person, die psychische Gewalt ausübt. Bis heute übernimmt die Familie im gesellschaftlichen Gesamtgefüge Spaniens eine prägende Rolle und das macht die Problematisierung von Familie weitestgehend unmöglich.
Spielt daher in Die Familie das Schweigen eine zentrale Rolle – unausgesprochene Konflikte, verdrängte Erinnerungen?
Gerade wegen der Stärke der Institution Familie ist es in meinem Land verpönt, schlecht über die Familie zu sprechen. Fast alles Schlechte, das innerhalb von Familien passiert, bleibt im Verborgenen und wird verschwiegen. Dies ist weiterhin ein großes Tabu. Als das Buch 2022 erschien, veröffentlichte die Zeitung El País einen Bericht, dessen Überschrift eine Zusammenfassung meiner Aussagen war: „Die Familie ist eine Bedrohung“. Natürlich wurde in dem Bericht die Bedeutung dieser Worte erklärt. Aber im Netz und in den sozialen Medien gab es heftige Reaktion, ich wurde beschimpft und es hieß, ich würde die unantastbaren familiären Fundamente angreifen.
Dabei hat das Bedrohliche und Konfliktreiche von Familien ja auch innerhalb des Genres des Familienromans eine lange literarische Tradition – von Thomas Mann bis zu zeitgenössischen Autor*innen wie Annie Ernaux. Inwiefern sehen Sie Die Familie in dieser literarischen Linie, und was wollten Sie ihr vielleicht bewusst entgegensetzen oder hinzufügen?
Der Roman ist ganz in diese Traditionslinie eingeschrieben und gibt nicht vor, neue Nuancen hinzuzufügen, da er nicht in der unmittelbaren Gegenwart angesiedelt ist. Mein persönlicher Beitrag besteht vielleicht darin, den Schwerpunkt auf die Schäden zu legen, die durch psychische Gewalt verursacht werden. Auf Verletzungen, die nicht sichtbar sind, die durch „gute Erziehung“ verdeckt werden. Und ich wollte zeigen, wie diese Schäden, wenn sie in der Kindheit empfangen werden, die Persönlichkeit für den Rest des Lebens prägen. Aber ich wollte es auch ohne Sentimentalität und Tragik erzählen, mit einem mitfühlenden, sympathischen und leicht humorvollen Ton.
Vielen Dank für das Gespräch und viel Spaß bei Ihrer Lesung in Bremen, Sara Mesa.