Draußen wurde es Nacht und ich dachte an all jene, mit denen wir zusammengesessen hatten, der Tisch und ich. Manche von ihnen waren berühmt geworden, manche ausgewandert, andere hatten sich kaum je bewegt, die meisten von ihnen hatten Kinder bekommen. Es erschien, erst jetzt im Rückblick, wie ein Gesetz, dass Eltern keine Nächte mehr am Küchentisch verbrachten, zumindest nicht an meinem. Dass er über die Jahrzehnte zu einem Ort der Kinderlosen geworden war. Menschen trennten sich in zwei Lager, entgegen allen Versprechen, entgegen allen Hoffnungen.
Es passierte nicht schlagartig mit der Geburt des ersten Kindes, es war schleichend. Die besten Freunde wurden zu Menschen, die man nicht mehr jederzeit anrufen konnte, die fast nie Zeit hatten ans Telefon zu gehen, die nur noch mit anderen Eltern befreundet waren, am Wochenende Familienausflüge machten und am Samstag manchmal einen Pärchenabend. Menschen, die kurz vor der Einschulung aufs Land zogen und nur noch über ihre Gärten sprachen. Gärten, die so viel Arbeit machten, dass die Zeit fehlte, gemeinsam in ihnen zu sitzen. Lange Zeit dachte ich, das wächst sich aus. Wenn die Kinder erstmal groß sind, dachte ich, doch hatte ich dabei die Enkel vergessen.
Und in der Stadt blieben wir Kinderlosen an dem Tisch sitzen, der keine Arbeit machte. Wir gingen ans Telefon, wann immer es klingelte, bekochten einander, besonders in den schlechten Zeiten, wenn die Eltern starben, das Geld ausging, die Liebe zerbrach, wenn Diagnosen gestellt werden, die uns das Leben kosten konnten. Wir saßen zusammen, in kleinen und nur noch selten in großen Runden, redeten, lachten, weinten manchmal, machten weniger Pläne, hatten immer noch Sehnsüchte. Unsere Umarmungen wurden mit jedem Jahr länger und fester, wir legten endlich die Füße auf den Tisch und wussten, wie glücklich wir waren, miteinander alt werden zu können.
Am nächsten Morgen holten ihn zwei junge Frauen ab, trugen ihn das Treppenhaus hinunter, befestigten ihn draußen auf dem Dach eines Kombis und fuhren davon. Ich winkte meinen Erinnerungen hinterher und hoffte, eine neue Generation mit neuen Plänen würde zusammensitzen, ganze Nächte lang, und es würde alles wieder von vorne beginnen, für einen Tisch war das einfach.
Lucy Fricke
geb. 1974 in Hamburg, lebt in Berlin. Nach ihrem Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig hat sie viele Jahre beim Film gearbeitet. Für ihre veröffentlichten Erzählungen und Romane erhielt sie bereits zahlreiche Auszeichnungen: Ihr Buch Töchter erhielt den Bayerischen Buchpreis 2018 wurde in acht Sprachen übersetzt und verfilmt. Nach dem Bestseller Die Diplomatin ist ihr zweiter Roman Das Fest im Oktober 2024 erschienen. Seit 2010 veranstaltet Lucy Fricke außerdem HAM.LIT, das erste Hamburger Festival für junge Literatur und Musik. Sie lebt in Berlin.
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Lucy Fricke liest im Rahmen der Lesereihe Satzwende am 20. Mai in der Bremer Shakespeare Company.