Satzwende: Lucy Fricke (1/2)

Ein Polaroid-Foto liegt auf einem Tisch.
© Rike Oehlerking

Wie man sich von einem Tisch verabschiedet 

Von Lucy Fricke

Ich hatte mir nichts dabei gedacht, ich hatte schlichtweg vergessen, mir etwas dabei zu denken. Ich wollte ihn bloß schnell loswerden, der alte Tisch passte nicht mehr in die neue Küche. Dreißig Jahre war er alt, aus Kiefernholz und hatte damals ungefähr dreihundert D-Mark gekostet, für mich ein Vermögen. 


Zu verschenken schrieb ich in die Anzeige, nur an Selbstabholer. Ich wischte noch einmal drüber. Er hatte tiefe Schrammen von den vielen Umzügen und ein eingeritztes Herz am Tischende. Ich hatte nie gewusst, von wem das kam. Nach einer Party war es morgens einfach dagewesen, zu einer Zeit als der Tisch noch nagelneu war und ich gerade mal Anfang zwanzig. Eine Wohnung in Hamburg-Altona, in einem ehemaligen Pferdestall. Die wahrscheinlich schönste Wohnung, in der ich je gelebt habe. Wir wohnten dort zu zweit, eigentlich, doch es war ein ständiges Kommen und Gehen, eine Zeit, in der wir Freunde hatten, wie Sand am Meer und noch glaubten, das würde immer so bleiben. 

Ganze Tage und ganze Nächte haben wir dort gesessen, haben Pläne gemacht, fürs Leben, für Sehnsüchte, für Romane und Filme. Die meisten davon haben wir wieder verworfen. Wir haben gelacht, geweint, gestritten. Wir haben gegessen, getrunken und gekifft. Wir waren wie festgewachsen an diesem Tisch. Wohin ich auch zog, ich nahm ihn mit. In andere Städte, wo ich mit anderen Menschen in anderen Küchen saß. Als sei der Tisch die einzige Konstante in meinem Leben. An ihm sitzend hatte ich mich verliebt und wieder getrennt, mehr als einmal. 


Es war nicht leicht, sich von einem Tisch zu verabschieden, das sollte man nicht unterschätzen. Als würde ich drei Jahrzehnte Leben zum Verschenken anbieten, nur an Selbstabholer. Morgen um 11 Uhr würde jemand kommen und ihn mitnehmen. Eine Vorstellung, die mir plötzlich Angst machte, ein schmerzhafter Verlust, den ich vollkommen gedankenlos selbst verschuldet hatte. Jetzt stand ich da und konnte nicht aufhören, mit dem Lappen über den Tisch zu wischen, als versuchte ich ihn zu trösten. Schließlich setzte ich mich zu ihm, auf ein letztes gemeinsames Glas. (…)


Lucy Fricke
© Gerald von Foris

Lucy Fricke

geb. 1974 in Hamburg, lebt in Berlin. Nach ihrem Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig hat sie viele Jahre beim Film gearbeitet. Für ihre veröffentlichten Erzählungen und Romane erhielt sie bereits zahlreiche Auszeichnungen: Ihr Buch Töchter erhielt den Bayerischen Buchpreis 2018 wurde in acht Sprachen übersetzt und verfilmt. Nach dem Bestseller Die Diplomatin ist ihr zweiter Roman Das Fest im Oktober 2024 erschienen. Seit 2010 veranstaltet Lucy Fricke außerdem HAM.LIT, das erste Hamburger Festival für junge Literatur und Musik. Sie lebt in Berlin.

Zum Autor*innenprofil von Lucy Fricke

Lucy Fricke liest im Rahmen der Lesereihe Satzwende am 20. Mai in der Bremer Shakespeare Company.

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