Der Mond spiegelt sich im Hafenbecken, auf der Straße verebben die Geräusche, Sterne tauchen zwischen den Wolken auf, wie nur selten in den letzten Nächten. Fische, Quallen, weit draußen zieht ein Schwarm Heringe durchs Wasser. Es ist 1956, sie steht wieder neben dem Friseursalon, der noch bis spät in die Nacht geöffnet hat, und wartet auf die Straßenbahn, die Carl von der Columbuskaje nach Hause bringen wird. Acht Jahre, nachdem die Amerikaner 23.000 geheime Kisten mit Türknäufen in Form von Banknoten für die drei Westzonen angeliefert haben. Drei Jahre, bevor Elvis Presley an der Kaje ankommt.
Carl wird sich die Haare schneiden und pomadieren lassen, sein Ritual des Ankommens. Carls Welt ist eine, von der sie nicht sagen kann, ob sie wahr ist. Sie ist nur einmal an Bord des Schiffes der Hapag Lloyd gewesen, hat sich durch die Korridore führen lassen, den Speisesaal bestaunt. Aber die Columbus gibt es nicht mehr. Das vom Kapitän selbstversenkte Schiff schläft vor der amerikanischen Küste auf dem Meeresboden, bevölkert von Unterwasserkreaturen und Tiefseeträumen.
Elektrische Blitze laufen an den Oberleitungen, die Gleise, die in die Zukunft führen, sirren: vor dem Cinemotionkino an der Karlsburg werden die Schienen in einigen Jahren nicht mehr befahrbar sein.
Niemand kann sie jetzt sehen, niemand wartet mit ihr. Wenn sie nicht aufpasst, versäumt sie den Moment. Eine Wolke schiebt sich vor den Mond. Das Sirren wird lauter, die Straßenbahn nähert sich. Carl wird wie immer auf dem hintersten Platz sitzen und nach draußen schauen, als ob sie wirklich noch da ist, auf ihn wartet. Er wird aussteigen, eine unscharfe schmale Gestalt erblicken, die im hochgeschlossenen Mantel mit Kaninchenfellkragen am Bürgersteig steht und zu ihm hinübersieht. Er wird ihr zunicken, wie jedes Mal, wenn er zurückkommt. Ein Stich im Herzen. Dann betritt er den Friseursalon, die Klingel an der Tür geht und lässt seine Frau verblassen, zu einem Geist werden, der sich unsichtbar in sein Herz zurückzieht.
Rabea Edel
wurde 1982 in Bremerhaven geboren und lebt heute an der Mosel und in Berlin. Sie war Preisträgerin des Open Mike, Stipendiatin der Jürgen-Ponto-Stiftung und der Akademie der Künste. Ihr Debütroman Das Wasser, in dem wir schlafen (Luchterhand 2006) wurde von der Kritik begeistert aufgenommen und vielfach ausgezeichnet. Ihr zweiter Roman Ein dunkler Moment (Luchterhand 2011) stieß auf ein ebenso begeistertes Echo. 2021 veröffentlichte sie das Kunstbuch A Second Beating Heart (Shift Books). Regelmäßig stellt sie auch als Fotografin aus. Ihr Hörspiel Ihre Geister Sehen (Deutschlandfunk Kultur), gesprochen von Sandra Hüller, wurde mit dem ARD-Hörspielpreis ausgezeichnet. Im Januar 2025 erschien der aktuelle Roman Portrait meiner Mutter mit Geistern (C.H. Beck).
Am 05. September liest Rabea Edel bei Bremen liest! in der Buchhandlung Logbuch.