Das T-Shirt ist gebatikt, zwei Nummern zu groß, ich kann es beinahe als Kleid tragen. Es ist furchtbar bunt, niemand sonst in der Grundschulklasse meiner Kleinstadt wird so etwas anziehen. Beim Blick in den Spiegel erkenne ich mich selbst kaum, aber ich will es unbedingt haben. Meine Mutter bezahlt lächelnd, ohne zu fragen, auf dem ursprünglichen Preisschild klebt ein rotes. Sie legt Radlerhosen in passendem Türkis dazu, es sind die 80er Jahre. Stolz trage ich die Einkaufstüte mit dem Logodruck des Einkaufszentrums. Zweimal im Jahr fahren wir hierhin, um Frühjahrs- oder Winterkleidung nachzukaufen, aus der ich herausgewachsen bin.
Gegenüber auf der anderen Straßenseite liegt ein anderes dreistöckiges Haus, früher das Merkur, dann die Preis-Oase, rote Schrift auf gelbem Grund, dazwischen Teppiche. Meine Mutter bleibt stehen, will etwas sagen, zieht mich dann aber weiter. Wir müssen den Zug nach Hause bekommen, das letzte Stück zum Bahnhof rennen wir. Wir sind nur zu Gast hier.
Damals weiß ich nichts über das Haus auf der anderen Seite und nichts über die Menschen in der Stadt, in der ich geboren wurde;
die, die vor mir hier waren und deren Leben in meinem pulsieren, die, die ich nie getroffen habe, weil sie fortgebracht worden sind und dieses fort keinen Zweifel erlaubte, kein Nachfragen, keine Namen. Auch meine Mutter wusste lange kaum etwas über das Haus auf der anderen Seite. Andere wussten immer schon, dass das Haus fünfzig Jahre zuvor (nur lächerliche fünfzig Jahre) in der Reichsprogromnacht in Brand gesetzt wurde. Erzählt wird lange nur von den Teddys, den elektrischen Eisenbahnen, dem Fahrstuhlführer im Livree, dem Blick nach vorne, bloß nicht zurück.
Jahre später sehe ich, dass an der Ecke Georg-Grasshoffstraße etwas Neues entstehen soll. Abriss. Dann Tiefgaragen. Ein Pflegeheim. Geschwungene Linien, elfenbeinfarbene Fassaden. Das Meer imitierend, das sich nicht kümmert, das die Geschichten davonzuspülen scheint und doch immer wieder an Land trägt. Die Stadt verschiebt sich, kippt, repariert sich, verfällt, verändert sich, vergisst, verschweigt. So wie jede Stadt. Die Wunden liegen brach, werden notdürftig behandelt oder ignoriert, aber manche (zu wenige) werden auch erzählt. Keine Heilung. Aber eine Notwendigkeit
Rabea Edel
wurde 1982 in Bremerhaven geboren und lebt heute an der Mosel und in Berlin. Sie war Preisträgerin des Open Mike, Stipendiatin der Jürgen-Ponto-Stiftung und der Akademie der Künste. Ihr Debütroman Das Wasser, in dem wir schlafen (Luchterhand 2006) wurde von der Kritik begeistert aufgenommen und vielfach ausgezeichnet. Ihr zweiter Roman Ein dunkler Moment (Luchterhand 2011) stieß auf ein ebenso begeistertes Echo. 2021 veröffentlichte sie das Kunstbuch A Second Beating Heart (Shift Books). Regelmäßig stellt sie auch als Fotografin aus. Ihr Hörspiel Ihre Geister Sehen (Deutschlandfunk Kultur), gesprochen von Sandra Hüller, wurde mit dem ARD-Hörspielpreis ausgezeichnet. Im Januar 2025 erschien der aktuelle Roman Portrait meiner Mutter mit Geistern (C.H. Beck).
Am 05. September liest Rabea Edel bei Bremen liest! in der Buchhandlung Logbuch.