Nanjing: Eine Stadt, in tausend Schichten geschrieben

Ein Gebäude wird nachts angestrahlt
© privat

Nanjing ist mehr als eine Stadt – sie ist ein bewegendes Buch. Eine Geschichte, die sich Schicht für Schicht, Seite für Seite entfaltet. Ein Ort, an dem Literatur, Geschichte, Kunst und Technologie auf natürliche Weise ineinandergreifen.

Als einer der eingeladenen AutorInnen zur Writer’s Residency der „UNESCO City of Literature Nanjing“ durfte ich gemeinsam mit KollegInnen aus Óbidos (Portugal), Montevideo (Uruguay), Lahore (Pakistan), Tukums (Lettland) und Manchester (UK) an diesem intensiven literarischen Austausch teilnehmen. Ich vertrat Bremen und wir alle kamen mit einem gemeinsamen Ziel: Brücken zu bauen zwischen Sprachen, Kulturen und Zukunftsvisionen, durch das, was uns verbindet: die Literatur.

Ein besonderer Teil der Residenz war die Teilnahme an einer internationalen Konferenz für ÜbersetzerInnen und SinologInnen mit dem Fokus auf zeitgenössischer chinesischer Literatur. Was zunächst wie ein akademisches Programm erschien, wurde rasch zu einer tiefgreifenden menschlichen Erfahrung.

In Nanjing begegnete ich inspirierenden Persönlichkeiten: dem Künstler und Buchgestalter Zhu Yingchun, dessen Werke Stille, Natur und Text auf poetische Weise verbinden; der Malerin Yao Yuan von der Nanjing Academy of Painting and Calligraphy; und nicht zuletzt den Gedichten von Han Dong, deren leise Intensität lange nachwirkt. Begegnungen wie diese erweiterten nicht nur meinen literarischen Horizont, sondern auch mein Verständnis für das, was Literatur in anderen Kulturen bewirken kann.

Ernesto Salazar-Jimenéz liest in Nanjing.
© Ivan Wadeson
Teilnehmende der Residency in Nanjing stehen auf einer Bühne.
© Ivan Wadeson

Auch die Stadt selbst erzählt. Beim Besuch des Xiaoling-Mausoleums, der alten Stadtmauer, der Hallen des Nanjing Museums, des Imperial-Examination-Museums oder des Deji-Art Museums wurde deutlich: die chinesische Geschichte wird hier nicht nur ausgestellt. Die Tradition wird in jedem Saal erinnert, gelebt, spürbar gemacht. Jeder dieser Orte war eine Einladung zum Innehalten.

Unvergesslich bleibt auch der Besuch der Librarie Avant-Garde – einer unterirdischen Buchhandlung in einem ehemaligen Parkhaus unter einem Stadion. Der Weg dorthin war wie ein Übergang in eine andere Welt: gedämpftes Licht, der Geruch von Papier, stille LeserInnen jeden Alters. Eine Mauer in der Mitte eines langen Weges aus handgeschriebenen Postkarten junger BesucherInnen. Auf Bildschirmen: persönliche Buchempfehlungen. In den Regalen: Literatur aus aller Welt (darunter überraschend viele Werke lateinamerikanischer AutorInnen).
Dies ist kein Ort, den man einfach betritt. Es ist ein Ort, der einen empfängt. Der verwandelt. Der bleibt.

Gebäude in Nanjing.
© privat

Und dann kam jener Abend, spät, an dem die Stadt zu uns sprach; nicht mit Worten, sondern mit Klang, Bewegung, Licht: eine Aufführung der traditionellen chinesischen Oper. Ich verstand nicht die Worte in ihrem Gesang, aber die Dramatik ihrer Tänze und ihrer Musik. Ein orchestrales Gedicht, das nicht gelesen wurde, sondern wir erlebten es. Was zuvor gesungen wurde, wurde nun gekostet. Auch kulinarisch offenbarte sich Nanjing: In den luftigen Höhen der Wolkenkratzer, an langsam rotierenden Tischen, drehten sich Gespräche mit den Tellern: über verlorene Zeiten, übers Übersetzen von Welten, über Gedichte – und über Geheimrezepte der Großmütter. Diese Momente des Austauschs, die Stunden, die Stadt, den Tisch und Begegnungen unvergesslich machten, waren Begegnungen, die wir mit Aromen sammelten; mit ihren Geschmäckern, neuen Erfahrungen und Orten, die nun eine Adresse in uns tragen.

Zwei Orte haben mich besonders bewegt: Der Usnisa-Palast im Niushoushan-Kulturpark, ein spirituelles Meisterwerk, das in seiner Architektur ebenso überwältigt wie in seiner Stille. Und das Observatorium am Purpurberg, von dem aus der Stadt wie ein Vers zwischen Himmel und Geschichte erscheint.

Doch was mir am meisten geblieben ist, sind die Menschen, die mit Nanjing als UNESCO City of Literature verbunden sind: SchriftstellerInnen, OrganisatorInnen, ÜbersetzerInnen, Freiwillige – Menschen, die nicht nur an die Kraft der Literatur glauben; Literatur ist ihre Lebensbegleitung. Sie leben ihre Arbeit. Mit Aufmerksamkeit. Mit Herzlichkeit. Mit Hingabe.

Ernesto Salazar-Jiménez

wurde in Caracas, Venezuela, geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland. Seit 2016 ist er Mitglied der Schreibgruppe des Blaumeier Ateliers. Seit 2017 nimmt er an zahlreichen Workshops und Lesungen des Bremer Literaturkontors und der Bremer Literaturszene teil. Kurzgeschichten veröffentlicht in: Grenzen (Blaumeier 2018), So nimmt man das Leben mit (Sujet Verlag 2019),  Blaumeier oder der Möglichkeitssinn (Blaumeier 2020), Das grüne Ding (Blaumeier 2021). Eine Probe seiner Prosa-Texte ist auch in der MiniLit Nr. 14 des Bremer Literaturkontors zu sehen.

Lesezeichen von Ernesto Salazar-Jiménez

Porträt von Ernesto Salazar-Jimenez
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