Literarischer Landgang
heißt das Reisestipendium, das das Literaturhaus Oldenburg jährlich seit 2015 vergibt. Auf ihren Expeditionen durch das Oldenburger Land treffen die Stipendiat*innen auf urbane und ländliche Räume, auf Natur und Kultur - von der Nordseeinsel Wangerooge bis zur Weser führen die Landgänge. Die Beobachtungen von unterwegs werden zu einem Text verdichtet.
Die bisherigen Stipendiat*innen waren u.a. Matthias Politycki, Marion Poschmann, Mirko Bonné, Judith Hermann und Iris Wolff. 2024 wurde Deniz Utlu mit dem Literarischen Landgang ausgezeichnet. Während seiner Reise durchs Oldenburger Land ist das Langgedicht Panorama einiger Menschen aus meiner Heimat im September entstanden. Einen Auszug daraus findest du hier.
Mehr über den Literarischen Landgang im Interview mit Monika Eden vom Literaturhaus Oldenburg
auf dem bahnsteig abschied
mirko und jo per faustschlag
torbens hut fällt aus der zeit
niemand wünscht ihm gute fahrt
ursula mit perlenkette
sie fährt ihrem gast beidhändig ins gesicht
mai-linh trägt stiefel aus rotem schlangenleder
mit funkelnden sternen im stiefelsporenriemenschumck
löwenmäulchen wiegt sie im arm
claudia fallen blonde strähnen ins gesicht
die blumen sind für sie
auf dem bahnsteig in bremen
ursula kannte claudia
claudia war als kind
ein kind namens klaus
claudia erinnert sich an ursula
von spaziergängen an der weser
man grüßt sich lange nicht mehr
mai-linh hat in bremen germanistik studiert
hat freunde gefunden und eine einzimmerwohnung im viertel
an jo ist sie schon fünf mal vorbeigelaufen
hat ihn nie wahrgenommen
jo will rapmusik produzieren
hat sein skateboard abgeschliffen
mirko trägt weite hosen weite pullover
schmal das gesicht schmal die schulter
jo und mirko drehen bald ein video mit frauen in einem auto
sie kennen keine frauen und haben kein auto
torben wollte künstler werden
in seinem steuerberatungsbüro hängt ein rosa esel
aus der mappe mit der er sich nie bewarb
er sagt sich eines tages kommt auch meine zeit dichter
sind ihm lieber als makler bei der einkommensteuererklärung
er weiß nicht – wüsste er nur – ursula kaufte einmal seine
siebdruck-postkarten mit esel hund katze huhn
sie liegen mit lieben
grüßen in mailand und madrid
in schubladen aus holz
das weiß torben nicht
das schert mai-linh nicht
ursula hat es längst vergessen
aber alle wissen
auch mirko
vor allem mirko
du findest überall
etwas besseres als den tod
Deniz Utlu
wurde 1983 in Hannover geboren und studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext heraus. Sein Debütroman Die Ungehaltenen erschien 2014 und wurde 2015 im Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert. Von 2017 bis 2019 schrieb er für den Tagesspiegel die Kolumne Einträge ins Logbuch. 2019 erschien sein zweiter Roman Gegen Morgen, 2023 sein dritter Roman Vaters Meer. Deniz Utlu hat zudem Theaterstücke, Lyrik und Essays verfasst. Er forscht am Deutschen Institut für Menschenrechte und veranstaltet am Maxim Gorki Theater die Literaturreihe Prosa der Verhältnisse. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, zuletzt 2021 mit der Mainzer Poetikdozentur und dem Alfred-Döblin-Preis, 2022 mit einem Aufenthaltsstipendium in der Kulturakademie Tarabya in Istanbul, 2023 mit dem Bayerischen Buchpreis und 2024 mit dem Preis der LiteraTour Nord.