Am Abend stehe ich vor meinem verschlossenen Schlafzimmerfenster. Mittlerweile hängt Nebel über den Tannen, so dicht als wolle er nach mir greifen und mich in den Wald zerren.
Ich wünsche, er würde es tun.
Ich will in den Wald. Dort Zuflucht finden, ein anderes Zuhause. Also warum renne ich nicht, wenn sich mir die Möglichkeit bietet?
Die Antwort ist dunkel und sickert so schnell unter der Tür hervor, dass ich fürchte in ihr zu ertrinken. Was wäre, wenn nicht mal der Wald mich aufnehmen würde?
Keine ausgestoßenen Kinder, die mich zu ihrer Schwester machen. Keine selbstgebauten Hütten, kein wärmendes Feuer. Keinen Vollmond, den ich anjaule, keine Wölfe, die mir antworten. Nur das, was ich bereits kenne.
Leere.
Ich schlurfe ins Badezimmer. Meine Zahnbürste gleitet immer wieder über dasselbe Stück Zahnfleisch - aber ich spüre es nicht, merke nur die Angst. Bitte Schlaf, komme schnell und nimm mich zu dir. Erlöse mich für eine Nacht von meinen sich drehenden Gedanken.
Im Bett knistert die Daunendecke und ich falle in ihre Weichheit. Ich krieche unter sie, sehe die Welt plötzlich in warmen-orangen Licht. Hier finden mich die Zweifel nicht, dafür empfängt mich der Schlaf und ich versinke in seinen Träumen:
Tilda steht in der Küche. Auf ihrer Haut schimmern violette Farbspritzer.
„Du wurdest in Farbe getaucht“, lache ich.
Meine Hand greift nach einem Tuch, will sie abwischen. Doch als ich Tilda berühre, schreit sie auf. „Nein!“ Warum schreit Tilda so? Ich sehe auf meine Hand, Tildas Violett sickert auf meine Haut, verfärbt mich - endlich sehen wir gleich aus.
Die Tür öffnet sich und mein Vater erscheint. An seinem Gesichtsausdruck merke ich, dass er seine lilafarbene Tochter nicht erkennt.
„In den Wald oder wo auch immer du hingehörst“, brüllt er.
Ich will losrennen, aber es geht nicht. Wo sind meine Beine? Ich will prüfen, ob sie noch an mir hängen, sehe herunter, aber da ist nichts. Kein Körper, kein Boden, nur Schwarz in das ich falle.
Kristin Moldenhauer
wurde 1990 in Osnabrück geboren. Sie studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis sowie Inszenierung der Künste und der Medien an der Universität Hildesheim. Seit ihrem Studium arbeitet sie medien- und theaterpädagogisch mit Kindern und Jugendlichen. Ihr Fokus liegt dabei auf dem gemeinsamen Suchen, Schreiben und Vertonen von Geschichten. In ihrem eigenen Schreiben ist sie inspiriert von fantastischen Welten und der Frage, wie diese Ideen einen intersektionalen Feminismus aufgreifen können. In ihrem Romanprojekt, das aktuell noch in Arbeit ist, zeigt sie, dass Fantasy auch politisch sein kann. Das fantastische Element, der Schlafregen, lotet in ihrem Text immer mehr die Grenzen zwischen Schlaf und Wachsein aus und verhandelt dadurch Fragen von Klassismus und politischer Macht.
Das Projekt wurde mit dem Nachwuchsstipendium des Bremer Autor*innenstipendiums 2024 ausgezeichnet.