Auf den Ruinen der russischen Seele

Roter Himmel über der Stadt
© Rike Oehlerking

Auf den Ruinen der russischen Seele

Von Elizaveta Vasileva

Mir bleibt heute ein dicker Klumpen bedeutungsvoller und wichtiger Worte im Hals stecken. Kein Ton, kein Gedanke, kein gewelltes Wort, nicht einmal ein klingelnder Punkt. Ich gestehe. Ich kann nichts hören. Ich gestehe. Ich kann nichts sagen.

„In der Stille des Morgens bin ich. In der Stille der Nacht bin ich geworden. Im Übergang zum ohrenbetäubenden und lärmenden Tag bin ich heimatlos geworden.“

Meine Stimme rauscht nicht mehr mit dem sanften Wind in der Dunkelheit des eleganten russischen Wortschwalls. Meine Gedanken erreichen nicht mehr die Stille der russischen philosophischen und verdammten Seele. In der Stille des Morgens bin ich. In der Stille der Nacht bin ich geworden. Im Übergang zum ohrenbetäubenden und lärmenden Tag bin ich heimatlos geworden.

Ich werde ehrlich und offen sprechen. Ich gestehe. Ich gestehe dem Ältesten auf dem bodenlosen Berg, was. Unter der scharlachroten Decke der Morgendämmerung werde ich flüstern, was meinen Geist erröten lässt und über meinen Kummer auf diesem Berg.

Im Sturz des ohrenbetäubenden Leids und im Aufstieg der stummen Freude hatte ich immer den Eindruck, dass es eine Seele in der finsteren russischen Dunkelheit gibt. Dass in dem lebendig gewordenen Kreml-Wahnsinn und dem Läuten der patriarchalischen Moskauer Glocken ein Zentrum dieser komplizierten Seele zu finden ist. Dass der Schlüssel dazu irgendwo gespeichert ist, wo der Polarstern in bodenlose Felder, Felder und nochmals Felder fließt. Ich hatte auch den Eindruck, dass in all dem ein Hauch von Stille und Donner liegt, der allmählich in das Licht und die Farben des Lebens übergeht. Das schien mir damals so. Dann.


Auf dem Weg zu diesem Berg der Seele, Schritt für Schritt, wollte ich über die bemerkenswerte kulturelle Zerbrechlichkeit der russischen Seele sprechen: über ihre stets philosophierenden und theoretisch versierten Bewohner, über ihre unglaubliche Sprache, die jeden, der sie von außen berührt, in den Wahnsinn treibt, über ihr unglaublich tiefes Leid und den klösterlichen Rhythmus eines schlaflosen Lebens, über ihre ewigen Fragezeichen in den Augen jedes Wortes.

Aber heute, aber jetzt, aber in dieser Sekunde will, kann oder darf ich nicht mehr darüber sprechen, denken oder schreiben. Die scharlachrote Farbe verschwindet nicht mehr aus meinem Gesicht und meinen blutigen Händen. Ich schäme mich. Ich habe Schmerzen. Ich wünsche mir eine stille, sanfte Trauer um die Ruine dieser russischen Seele, die weder mir noch sonst jemandem zugänglich ist und von der nichts mehr übrig ist. „Es ist weg“, heißt es jeden Tag in den Nachrichten.


Die Seelenlosigkeit hat mein Zuhause verschluckt. Ohne einen Blick zurückzuwerfen. Die Seelenlosigkeit hat meine Lieben verschlungen. Leise. Die Seelenlosigkeit hat meinen Geist verschluckt, der zusammen mit der sprichwörtlichen Seele tot ist wie nie zuvor. Und es kam eine ohrenbetäubend stille, blutige, blutleere, scharlachrote Nacht. Mondlos. Obdachlos. Seelenlos.

Die Seelenlosigkeit bringt eine Flut von Zusammenbrüchen mit sich. Die Seelenlosigkeit trägt eine Wolke der Dunkelheit. Die Seelenlosigkeit trägt eine Melodie des Chaos‘ in sich, die nicht nur die Ratten, sondern das ganze Schiff sinken lässt. Die Seelenlosigkeit schlingt wie ein schwarzes Loch mit einer besonderen Gier nach allem Abstrakten und Figürlichen alles in sich hinein und spuckt illusorischen Gegnern ins Gesicht, indem sie eine Würde verteidigt, die längst verschluckt wurde.

Und ganz gleich, was die Gründe waren oder was mein zerbrechliches Glashaus zur Gefühllosigkeit trieb. Diese Gründe werden nie wieder eine Rechtfertigung wert sein. Diese Gründe werden nie wieder als Rechtfertigung für den endlosen Strom des Todes blühender Seelen taugen. Diese Gründe werden nie wieder als Rechtfertigung für das Zerbröckeln widerstandsfähiger Häuser taugen. Diese Gründe werden nie wieder als Rechtfertigung für einen endlosen Strom zerbrochener Leben herhalten müssen, egal ob sie entkommen sind oder nur zufällig hinter die Gitterstäbe der Zellen geraten sind.

„Die Seelenlosigkeit schlingt wie ein schwarzes Loch alles in sich hinein und spuckt illusorischen Gegnern ins Gesicht, indem sie eine Würde verteidigt, die längst verschluckt wurde.“

Man hat mir immer gesagt, dass Russland seinen eigenen Weg geht, dass Russland das dritte Rom ist, das nicht fallen wird, dass es heiliger als jede Heiligkeit ist. Aber heute glaube ich, dass wir nie wieder einen Sonnenaufgang über den seelenvollen und herzzerreißenden Ruinen, über der hohen Klippe der russischen Seele erleben werden.


Elizaveta Vasileva
© Bogdan Zhvalevskyi

Elizaveta Vasileva

wurde 1997 in Sankt-Petersburg geboren. Sie studierte Kunstgeschichte und Fotografie in Wien. Seit 2020 studiert sie in Bremen Freie Kunst an der Hochschule für Künste, zur Zeit in der Klasse von Asli Serbest. 2021 war sie an der Gruppenausstellung Distance matters – coming together to stay apart auf dem Open Space Domshof beteiligt.

Zum Lesetipp von Elizaveta Vasileva im Literaturmagazin

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