Lesetipp aus der Redaktion: "Das Jahr des magischen Denkens"

Das Buchcover von "Das Jahr magischen Denkens" zeigt das Portrait zweier Menschen.

Wenn wir beim Thema „Verluste“ sind, darf der Name Joan Didion nicht fehlen. Die US-amerikanische Journalistin, (Drehbuch-)Autorin und Essayistin erlitt zwei dramatische Verluste binnen kürzester Zeit und schrieb darüber. Ihr Buch Das Jahr magischen Denkens, in dem sie über den plötzlichen Tod ihres Ehemanns John Dunne und ihre Reaktionen darauf berichtet, wurde zum Bestseller. Auch heute – nach fast 20 Jahren – hat es nichts an seiner Allgemeingültigkeit eingebüßt.

Wir alle wissen, dass wir früher oder später erfahren müssen, wie es sich anfühlt, einen geliebten Menschen zu verlieren. Aber wie werden wir auf den Verlust reagieren? Wie wird es sich anfühlen, was macht unser Innenleben aus dem Schmerz? Bleiben wir auf beiden Beinen stehen oder geraten wir ins Taumeln? Auch wenn die heutige Forschung weiß, dass Trauer so individuell ist wie die Menschen selbst, gibt es doch erkennbare Muster. Phasen, in die sich ein Trauerprozess einteilen lässt. Sie reichen von „Verweigerung“ und „Zorn“ über „Verhandlung“ und „Depression“ bis zur „Annahme“. Wobei die Reihenfolge hier nicht starr ist. Nur zu gut lassen sich diese Phasen auch in Didions Schilderungen erkennen, nachdem ihr Mann eines Abends unvermittelt einen Herzinfarkt erleidet und stirbt. Beim Abendessen. Und während die Adoptivtochter schon mit einer lebensbedrohlichen Krankheit auf der Intensivstation liegt und nur eineinhalb Jahre später ebenfalls sterben wird.

Das Jahr magischen Denkens ist aber so viel mehr, als nur ein Bericht über die inneren Welten einer Frau, die nach über 40 Jahren Liebe, Freundschaft, Zusammenleben und -arbeit ihren Mann verliert. Es ist ein Buch, das trotz aller Individualität absolute Allgemeingültigkeit erreicht. Es bricht (endlich) das Tabu, über Tod und Trauer zu sprechen. Es ist unbarmherzig und dennoch voller Herz. Es versucht rational das Geschehene einzuordnen und ist doch voller Emotionen. Es bringt für jemanden, der selbst schon getrauert hat, genauso Erkenntnis wie für jemanden, der erst noch trauern wird.

Es ist eine Pflichtlektüre für all diejenigen, die das Leben – und der Tod gehört nun einmal dazu – besser verstehen wollen. Und „besser“ meint in diesem Fall „realistischer“, auch, wenn es weh tut. Trotz der ehrlichen Direktheit, mit der Joan Didion ihre Reaktionen auf den Tod ihres geliebten Mannes beschreibt, gibt das Buch auch Hoffnung. Am Ende stehen nicht die Fragen, ob und wie wir mit Trauer umgehen, sondern die Aussage, dass wir aufgrund der Unabwendbarkeit in jedem Fall einen Weg finden werden.

DAS JAHR MAGISCHEN DENKENS | Joan Didion | Übersetzt von Antje Rávik Strubel | Ullstein Taschenbuch | Neuauflage Berlin 2021 | 256 S. | €13,99

Rike Oehlerking

ist Bildredakteurin bei uns im Literaturmagazin Bremen. Sie arbeitet darüber hinaus als freie Redakteurin für das Bremer Literaturkontor und andere Auftraggeber, schreibt Texte, macht Fotos und wühlt sich durch das alltägliche Geschäft aus E-Mails, Meetings und Organisation.

Wenn sie mal nicht an ihrem Schreibtisch sitzt, ist sie liebend gern draußen mit Hund und VW-Bus unterwegs. Bei ihren Ausflügen sind natürlich auch immer gute Bücher und ihre Kamera mit im Gepäck.

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