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© Rike Oehlerking

Dazwischen Narben
Von Anna Jäger

Narben dazwischen.

Sie sind zwischen 2 Hautstellen, oder an der Tasse, an der du heute Morgen um 05:00 genippt hast. Du wolltest eigentlich schlafen, aber du musstest los. Risse. Spliss hast du auch.

Du musst Geld verdienen. Manchmal haben Geldscheine Risse. Ein wenig oder komplett durchgerissen, mit Tesafilm zusammengeflickt. Ein Geldpflaster. So wirst du von deinem eigenen Ego geduldet, wie dieser Schein, der von Geldbeuteln zu Kassen rotiert, zwischen dreckigen und sauberen Händen mit kurzen oder langen Fingernägeln. Gel oder abgekaut. Manchmal bleibst du lange im Bett, wie der Schein, der vielleicht eine Zeit lang in einer Schublade verweilt, um für den Notfall benutzt zu werden.  Du benutzt dich im Notfall. Musst weiterziehen, durchziehen, manchmal zögerst du am Morgen und weißt nicht, ob du aufstehst. Ob du je wieder aufstehen wirst. Zwischen diesen düsteren Gedanken weckt dich dein Kind und lacht dich an. Das ist wertvoll. Du weißt das. Du musst aufstehen. Zwischen deiner Vergangenheit und deiner Zukunft liegt auf deinem Schoß dein Alltag, den du pflegst wie eine Narbe. Zwischen Aua und Abfahrt. Zwischen Kuscheln und Krediten. Zwischen Dance und Diaspora. Zwischen Jerks und Jesus. Zwischen Mama und Monster. Zwischen Schuld und Schamhaaren. Zwischen Tate und Theweleit. Zwischen Achtsamkeit und Antidepressiva.

Zwischen Nacktfotos und Narben.

Was pflegst du, wenn diese Narbe geheilt ist? Was macht dann Sinn? Bist du deine Narbe? Bis du deine Narbe geheilt hast, schaust du auf das Foto. Du in den Neunzigern. Schön. Auch schon vernarbt. 2023. Auch noch vernarbt.

Zwischen Neunzigern und Neujahren.

Du Dazwischen. Immer.

Du bist der Schein, der scheint.


Anna Jäger

kam 1987 in Bremen zur Welt. Mutter Griechin, Papa deutsch. Ihre erste Ausbildung erlangte sie als Bewegungstherapeutin in Athen. Mit 22 zog es sie wieder nach Bremen. Dort studierte sie Tanz und Theaterpädagogik. Inzwischen arbeitet sie auf und hinter der Bühne. Zuletzt im Theater Bremen als Performerin in der mit dem deutschen Theaterpreis Der Faust gekrönten Inszenierung Für 4 von Birgit Freitag. Auch in der Kunsthalle Bremen performte sie in der Ausstellung Soma von Luisa Eugeni. Filmisch war sie zuletzt in Björn Betons (Fettes Brot) Film Noir Kurzfilm zu sehen. Sie gibt regelmäßig künstlerische Workshops für Kinder und Jugendliche. Mit dem Schreiben begann sie schon als Grundschulkind. Ihr erstes Buch mit autobiographischen, episodenhaften Erzählungen trägt den Titel Ganz normale Tage - Geschichten von Träumen und Traumata.

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© Polina Vita

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