Lesezeichen: Loubna Khaddaj

Auf einem Stempel steht der Schriftzug "Geduldet".
© Markus Spiske on Unsplash

Stempelkarussel
von Loubna Khaddaj

Deutschland hat ein Stempelproblem. Es werden einfach so viele Stempel vergeben. Es werden einem praktisch Stempel nachgeworfen. Ein häufig verwendeter Stempel ist: Einzelfall. Dieser kommt wirklich oft zum Einsatz. Also mindestens so fünf Mal im Monat. Das sind die offiziellen Zahlen. Ganz zu schweigen von der Dunkelziffer. So zählen wir dann Einfall nach Einzelfall nach Einzelfall. 

Auch mir wurden schon Stempel aufgedrückt. Sobald ich auf die Straße gehe, beginnt dieser Stempelstress. In der Auswahl der Stempel, die anscheinend auf mich zutreffen, ist Migrationshintergrund sehr beliebt. Das Besondere an diesem ist, dass er nicht nur mir aufgedrückt wird. Nein. Ich gebe ihn automatisch an meine Kinder weiter und diese dann an ihre Kinder und so weiter. Ein Migrationserbe sozusagen. Das spart sehr viel Zeit und man kann sich sicher sein, dass keine Person mit Migrationshintervordergrund durchrutscht. Praktisch. Made in Germany diese Stempeleffizienz. 


Ein weiterer Allroundstempel, der gut und gerne in Anspruch genommen wird, ist Duldung. Dieser gilt für alle Menschen „mit Migrationshintergrund“. Auch für die, die einen deutschen Pass haben. Man könnte sich sonst ja auch zu sicher in diesem Land fühlen. Wo kämen wir denn da hin? Nehmen wir mich mal als Beispiel: Ich lebe mein ganzes Leben in Deutschland, habe einen deutschen Pass und aufgrund der guten Stempelanwendung ist das Gefühl des „geduldet seins“ unglaublich tief in mir verankert. Ich bin hier nur geduldet. Nichts ist sicher. Alles kann sich jederzeit wieder ändern. Ich darf keine Ansprüche stellen. Ich darf nicht auffallen. Ich fühle mich sogar in meiner Wohnung nur geduldet. Ich stelle keine Forderungen an meinen Vermieter, ich zahle jede noch so ungerechtfertigte Mieterhöhung. Der Stempel der Duldung geht Hand in Hand mit dem Gefühl der Angst. Sie kommen nur im Doppelpack. Auslöser und Auswirkung in einem.

Ja, ich habe Angst. Angst vor dem rassistischen System. Ich habe Angst vor jeglichen Behörden. Behördengänge bringen meinen Cortisolspiegel auf die höchste Stufe. Ich habe gelernt die Mimik von jeglichen Sachbearbeiter*innen in Sekunden zu analysieren. Mein Kopf fängt an zu arbeiten, geht alle eingereichten Formulare durch. Ich sage mir: „Es ist alles richtig. Es wird nichts passieren.“ Ich frage laut: „Stimmt etwas nicht?“ Ich bekomme Schweißausbrüche, mein Herz schlägt so laut wie Kirchenglocken. Ich bin in diesem Land aufgewachsen, habe hier studiert. Ich halte mich an alle Regeln, trenne den Müll, zahle meine Steuern. Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen. Trotzdem kann ein Anruf meines Vermieters, ein Naserümpfen eines Sachbearbeiters Existenzängste in mir wecken. 


Dem „Rechtsruck“, von dem alle gerade so überrascht sind, der uns „Menschen mit Migrationshintergrund“ schon lange bewusst ist, geht ein ganz ausgeklügeltes Stempelsystem voraus. Es bildet mehr oder weniger die Basis dafür. Ich habe Angst vor dem „Rechtsruck“. Keine Frage. Aber ich habe auch Angst vor den nach außen nicht sichtbaren, vermeintlich ordnungsgemäßen Aktionen, die nicht in den Nachrichten und in die Öffentlichkeit gelangen: nicht verlängerte Verträge, gekündigte Wohnungen, unterschlagene Kautionen und so weiter. Ich weiß nie, ob es wirklich rechtmäßig ist oder mir mein Migrationserbe zum Verhängnis wird. Und ich habe es so satt. Und ich bin müde und erschöpft. Und am liebsten würde ich sagen: „Deutschland, ich schenke dir einen neuen Stempelsatz. Hier hast du Akzeptanz, Miteinander, Fürsorge, Sicherheit, Zuversicht, Unterstützung, Versorgung und am allerwichtigsten: Daseinsberechtigung, Daseinsberechtigung, Daseinsberechtigung.“


Loubna Khaddaj

wurde 1985 geboren. Sie ist Autorin und hat in Bremen Kultur-, Erziehungs- und Bildungswissenschaften studiert. Die Themen ihrer Texte sind Rassismus, verschiedenen Diskriminierungsformen und auch ihre eigenen biografischen Erfahrungen als einzige Woman of Color in einem weißen Umfeld. Khaddaj sieht das Schreiben als eine Form von Selbstermächtigung und als Weg, sich und andere zu stärken.

Neben Online-Veröffentlichungen erschienen ihre Texte in Texte nach Hanau (stolze augen books, 2020), Yallah Salon, Arbeit und Illusion (edition assemblage, 2022) und Erziehungswissenschaften dekolonisieren. Theoretische Debatten und praxisorientierte Impulse (Beltz Juventa, 2023). 

Das Foto zeigt Loubna Khaddaj an einem Tisch in einem Restaurant.
© privat

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