Practicing Silent Writing

„Krisenzustand“ steht auf dem Klebeband, das sich einmal um den ganzen, weiß gefliesten Raum windet. Als ich die Tür des kleinen, leerstehenden Ladens an der St.-Jürgen-Straße öffne, sitzen vier junge Frauen auf Matten auf dem Boden und klopfen sich Arme und Beine ab. Ich rieche Räucherstäbchen. Draußen höre ich die Vögel singen und Autos über die Kreuzung rauschen. „Practicing Slient Writing“, so ist der Termin heute angekündigt. Auf einem Plakat an der Tür wird erklärt, was das eigentlich heißt: hereinkommen, Schuhe ausziehen, mit dem Körper auf der Matte ankommen, schreiben – das alles, ohne zu sprechen. In der Ecke hängt eine Pappe, auf der der Tagesablauf festgehalten ist und auf der wir Fragen, Gedanken oder Ideen notieren können.

Auf diesem Bild liegen drei Personen schreibend auf dem Boden.
© Christian Becker

Schreibe im Dunkeln. Schreibe, während du laut lachst. Create contemporary chaos.

Carla Anacker, Julia Höft und Emilia Sting haben unter dem Motto Lesarten und Schreibweisen in den letzten beiden Wochen eine Residency im thealit-Arbeitszimmer The Art of Emergency verbracht. Ihre Tage verliefen genau so, wie ich es heute miterleben darf. Ich nehme also auf der Matte Platz, strecke meinen Körper, schließe die Augen. Langsam atme ich ruhiger. 

Schließlich packen die Künstlerinnen Blätter und Stifte aus. Eine der Frauen tippt mich an und dirigiert mich zu einer der Kacheln an der Wand. Dort ist erklärt, wie es weitergehen soll: Der nächste Schritt sind die sogenannten Morgenseiten. Drei Seiten lang soll ich notieren, was mir durch den Kopf geht. Dadurch soll ich Ängste, Gedanken und Sorgen loslassen und einen Zugang zu meiner Kreativität finden. Um im Schreibfluss zu bleiben, soll ich keine Pausen beim Schreiben machen. Wenn ich nicht weiter weiß, soll ich stattdessen das letzte Wort immer wiederholen wiederholen wiederholen.

Ich kenne das Prinzip: Verschiedene Menschen habe ich davon auf Social Media schwärmen gehört, mir selbst aber in meinem Alltag nie die Zeit dafür genommen. Denn: Drei Seiten vollzuschreiben dauert lange! Bald verkrampft meine Hand, denn außer Einkaufszetteln und To-Do-Listen schreibe ich leider meistens am Bildschirm. Doch während sich Blatt um Blatt langsam füllt, merke ich, wie sich meine Gedanken sortieren. Mir fällt ein Name ein, den ich letzte Woche vergessen hatte, eine Erinnerung aus meiner Kindheit wird wach. Ob es den anderen Frauen auch so geht? Fragen kann ich sie nicht. Hier sind wir mit unseren Körpern und geschriebenen Wörtern allein.

Als ich fertig bin, sehe ich mich im Raum um. Auf den Kacheln sind verschiedene Schreibimpulse notiert. Schreibe im Dunkeln. Schreibe, während du laut lachst. Zwei davon wollen wir gleich ausprobieren, notiert eine der Frauen auf der braunen Pappe. Wir stellen uns auf den Matten auf und schütteln und, bis wir alle Wörter aus uns herausgeschüttelt haben. Das Schütteln bricht zum ersten Mal ein wenig die Stille im Arbeitszimmer. Irgendwann haben wir uns ausgeschüttelt. Jetzt wollen wir einen Lovesong mit unseren Mündern schreiben. Wir liegen auf dem Boden, die kurzen Stifte zwischen den Lippen kratzen nur unbeholfen über das Papier. Gar nicht so einfach! Wir kichern. Ein kleines „H“ zu schreiben, hat sich schon lange nicht mehr so schwer angefühlt. Während ich mich so auf den Schreibprozess konzentriere, vergesse ich fast, mir den Kopf über den Inhalt zu zerbrechen und schreibe „einfach“ drauf los. Nach einer Weile haben wir kurze Texte verfasst, die wir laut vorlesen. Jetzt wieder die Stimme zu benutzen, fühlt sich seltsam an – gleichzeitig macht es das Vorlesen zu etwas sehr Besonderem. 

Lese, bis dir vor Müdigkeit die Augen zufallen. Sobald du aufschreckst, schreibe auf, woran du dich vom Gelesenen erinnerst. 

Auf die grauen Pappe schreibe ich, dass ich jetzt leider wieder nach Hause gehen muss. Draußen warten die singenden Vögel und der blaue Himmel auf mich. Schön war’s im Arbeitszimmer! Kurz bin ich versucht, „Tschüss!“ zu rufen, doch dann winke ich nur und steige auf mein Fahrrad. 

Die Residency von Carla Anacker, Julia Höft und Emilia Sting endet mit dem offenen Atelier. Doch im Juni und Juli gestalten die drei Frauen die Litfaßsäule in der Bredenstraße im Literaturhaus-Projekt You create Space!

Annika Depping

ist seit einem Praktikum im Sommer 2014 im Team des Literaturhauses Bremen. Inzwischen leitet sie die Textredaktion des Literaturmagazins, organisiert das Kinderlesefestival Galaxie der Bücher und andere Projekte. Für das Literaturhaus ist sie außerdem Teil der Jury zur Vergabe des Bremer Autor*innenstipendiums. Sie hat in Bremen Germanistik mit Schwerpunkt Literaturwissenschaften studiert und liest am liebsten in ihrem Schrebergarten, wenn ihre Kinder ihr dazu die Zeit lassen. Über ihre Leseeindrücke schreibt sie auch im Online-Magazin Bücherstadt Magazin.

Mehr über unser Magazin und das Team kannst du übrigens hier erfahren.

Annika Depping
© Kerstin Rolfes

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