Queerer Kanon?!

Drei der vier Autor*innen in unserer Satzwende-Reihe sind in diesem Jahr queer und bringen Bücher mit, in denen queeres Leben thematisiert wird.  Denn: Es gibt so viel gute, queere Literatur – wir müssen sie nur entdecken! Dazu eignet sich auch der Newsletter Queerer Kanon von Tobias Schiller und Marlon Brand. Im Interview verraten die beiden, was dahinter steckt, warum es das Label „queere Literatur“ braucht und welches ihre Geheimtipps sind.

Das Bild zeigt zwei Männer, die freundlich in die Kamera schauen.
© privat

Was ist euer Anliegen mit dem Newsletter Queerer Kanon?

Mit unserem Newsletter-Magazin wollen wir unsere Leser*innen einladen, einen Blick auf die Vielfältigkeit queere Literatur(en) zu werfen. Wir widmen uns Genres, Autor*innen und einzelnen Werken, von Zufallsfunden über Klassiker bis hin zu Neuheiten. Im Zentrum steht die Frage, was queere Literatur(en) inhaltlich wie formal ausmacht. 

Davon ausgehend beschäftigen wir uns mit Themen, Mustern und Referenzen in der queeren Literatur und kontextualisieren diese. Dabei stellen wir auch immer wieder Klassiker und vergessene beziehungsweise nicht mehr aufgelegte Titel vor, denn die Literaturgeschichte ist voll von genuin queeren Motiven, Figuren, Erzählungen und Autor*innen. Von der griechisch-römischen Mythologie über die Zeit des römischen Reichs, das Japan des frühen elften Jahrhunderts bis hin etwa zum Europa der Aufklärung. 

Aufgrund von verschiedensten Formen der Repression – von Verboten über Zensur bis hin zur Vernichtung – sind queerer Literatur(en) oftmals durch das Spiel mit Auslassungen, verschiedenen Bedeutungsebenen, Codes und Sollbruchstellen geprägt. Diese Marginalisierung macht sich auch in den Texten bemerkbar. Unser Wunsch ist es, diese ein Stück weit sichtbar zu machen.

Darüber hinaus werfen wir auch einen Blick auf die Bedingungen, unter denen queere Literartur(en) entstehen, etwa auf Verlage, den Buchhandel und die mediale Rezeption.

Ist queere Literatur nicht einfach Literatur – also brauchen wir tatsächlich das Label dazu? Und warum?

Dieser Frage begegnen wir öfter. Nicht zuletzt, weil sich das Queere, in seiner gewollten Uneindeutigkeit, der Verweigerung, sich Normen und Normierungen zu unterwerfen, Labels und Schubladen verweigert. 

Ein Blick auf die Geschichte der queeren Literatur(en) zeigt, dass queere Texte und Autor*innen immer wieder unsichtbar gemacht wurden und werden. Selbst relativ offensichtlich queere Aspekte von Klassikern, etwa in den Werken Shakespeares, Prousts oder Sapphos, werden oft nicht als solche benannt oder diskutiert. 

Daher ist der Begriff „Queere Literatur“ wichtig, denn er lenkt den Blick auf Texte, die hetero-normativ-patriarchale Geschlechts- und Sexualitätszuschreibungen hinterfragen oder sich ganz deren zugrundeliegenden Binaritäten entziehen. Er macht sichtbar, was es schon immer gab: queeres Schreiben.

Natürlich steht queere Literatur nicht außerhalb anderer Literatur(en). Vielmehr ist sie intersektional zu betrachten, genre- und gattungsübergreifend. Generell plädieren wir für einen offenen, multiperspektivischen Literatur(en)-Begriff, der sich singulären Zuschreibungen verweigert.

Zu Guter Letzt haben Literatur und das Lesen immer auch ein identifikatorisches Potenzial. Auf Charaktere zu stoßen, die so fühlen, so begehren wie man selbst, ist ein wichtiger Akt der Selbstvergewisserung. Queere Menschen werden immer noch marginalisiert, queere Literatur(en) ermöglichen Zugehörigkeit zu einer Community, die nicht immer sichtbar, wohl aber spürbar sein kann.


„Der Begriff „Queere Literatur“ ist wichtig, denn er lenkt den Blick auf Texte, die hetero-normativ-patriarchale Geschlechts- und Sexualitätszuschreibungen hinterfragen. Er macht sichtbar, was es schon immer gab: queeres Schreiben.“


Wie steht ihr denn zum Begriff Kanon? Braucht es den und wie definiert ihr ihn für euch?

Das Konzept Kanon hat natürlich Vor- und Nachteile. Ein Kanon ist (in der Regel) klar umrissen und von seiner Definition her einengend, während Queerness bewusst Grenzen sprengt und sich einer eindeutigen Definition entzieht beziehungsweise immer wieder neu definiert werden muss. 

Gerade im digitalen Zeitalter ist die Vorstellung von dem einem allgemeingültigen Kanon aber längst überholt. Im Gegensatz zum gedruckten Buch können im Internet Listen angepasst, ausgetauscht oder miteinander verschmolzen werden. Auch ein gleichberechtigtes Nebeneinander unterschiedlicher Kanones ist möglich, sodass klassische Ausschlusskriterien umgangen beziehungsweise infrage gestellt werden können. Dieses Nebeneinander ermöglicht es aber auch, ganz unterschiedliche Ansprüche an einen queeren Kanon zu befriedigen.

Bücher in Regenbogenfarben
© Rike Oehlerking

Und auch wenn queere Literatur kein Genre ist, hat ein Kanon den Vorteil, dass er bestimmte Motive, Themen und Stoffe innerhalb einer Literaturtradition erkenntlich macht. Queere Literatur(en) wird gerne als Trend, als etwas Modernes wahrgenommen, dabei hat sie eine lange Geschichte, auf die Autor*innen sich auch ganz bewusst immer wieder beziehen. Das aufzuzeigen hat für viele Leser*innen in gewisser Weise einen emanzipatorischen Charakter. 

Unser Eindruck ist aber auch, dass dieses Wissen im klassischen Feuilleton oftmals nicht vorhanden ist und queere Texte dementsprechend nicht ernst genommen oder falsch eingeordnet werden. Wir wollen einen (zumindest kleinen) Teil dazu beitragen, das zu ändern.

Literatur von Frauen war lange ebenfalls marginalisiert und wird zunehmend sichtbarer. Was braucht es, damit queere Literatur auch dahin kommt?

Queerfeindlichkeit ist nicht ohne Misogynie zu denken, deswegen profitiert auch queere Literatur, wenn die Literatur von Frauen mehr Sichtbarkeit erhält – und es hat sich ja auch tatsächlich schon etwas getan in den letzten Jahren (wenn auch nicht annähernd genug). 

Eines der beliebten Argumente ist ja, dass Literatur von Frauen nicht universal sei und nur ein bestimmtes Nischenpublikum ansprechen würde. Queere Literatur steht in dieser Hinsicht auch in der Defensive und muss sich Vorwürfe der selbstgefälligen Nabelschau gefallen lassen.


„Verlage, Lektorat, Übersetzer*innen, Literaturvermittler*innen, etc. – damit queere Literatur überhaupt veröffentlicht werden kann, muss sich auch auf den Entscheidungsebenen etwas ändern.“


Dabei hat es in der Literatur Tradition, dass die Figur des*der Außenseiter*in einen neuen Blick auf die Gesellschaft und auf bekannte Themen ermöglicht. Hier ist eine Diskursverschiebung notwendig – das bedarf allerdings Zeit und Aufklärungsarbeit.

Aber die fehlende Sichtbarkeit von queerer Literatur ist natürlich auch ein strukturelles Problem. Verlage, Lektorat, Übersetzer*innen, Literaturvermittler*innen, etc. – damit queere Literatur überhaupt veröffentlicht werden kann, muss sich auch auf den Entscheidungsebenen etwas ändern.

Das Bild zeigt die Cover verschiedener queerer Bücher.

Was sind eure absoluten queeren Buchhighlights?

Marlon: Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat von Hervé Guibert (aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel), Im Meer, zwei Jungen von Jamie O’Neill (aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser) und Love Me Tender von Constance Debré.

Tobi: Das ist schwer zu sagen, da gibt es viele. Zwei, die mir aus dem Stegreif einfallen sind der Essay Time Is The Thing A Body Moves Through von T Fleischmann (noch nicht übersetzt) und Andrew Hollerans Tänzer der Nacht (aus dem Englischen von Christian von Maltzahn), dem ich eine Wiederveröffentlichung wünsche.

Ich habe den Eindruck, dass sehr viel sehr mutige queere Literatur aus dem englischsprachigen Raum kommt. Nehmt ihr das auch so wahr? Gibt es Texte, deren Übersetzung ihr dringend entgegenfiebert?

Diesen Eindruck kann man bekommen. Das liegt natürlich auch daran, dass der englischsprachige Raum viel größer ist und Texte, die häufig als nischig betrachtet werden, stärker die Chance haben, international Leser*innen zu finden. Auch gibt es im englischsprachigen Raum eine größere Zahl queerer Autor*innen- und Verlagsnetzwerke sowie mehr mediale Plattformen, die sich queerer Kultur widmen. Dementsprechend ist die Infrastruktur für queere Texte eine andere.

Zudem werden englischsprachige Texte in Deutschland viel öfter übersetzt als die aus anderen Sprachen, weswegen viele mutige queere Texte aus anderen Sprachräumen oft nicht sichtbar werden. Und auch in Deutschland gibt es spannende, mutige, formal wie stilistisch sehr originelle queere Texte, denen dringend mehr Aufmerksamkeit zukommen sollte. Evan Tepests Roman Schreib den Namen deiner Mutter oder die Graphic Novel Koma von Leonie Ott und Mazlum Nergiz sind gute Beispiele dafür.

Was die Übersetzungen angeht, freuen wir uns über eine Reihe an Texten. Tobi freut sich sehr auf die Veröffentlichung von Isabel Waidners experimentellem Roman Vielleicht ging es immer darum, dass wir Feuer spucken (aus dem Englischen von Ann Cotten), der von sprühender Originalität ist.

Marlon fiebert der deutschen Übersetzung von Constance Debrés Love Me Tender (aus dem Französischen von Max Henninger) entgegen und hofft, dass es nicht bei diesem einen Buch bleiben wird. 

Er wünscht sich aber auch, dass weitere Werke von Hervé Guibert übersetzt werden und sich ein Verlag Autoren wie Guillaume Dustan und Mathieu Lindon annehmen würde. 

Danke euch für das Gespräch!

Vielen Dank!

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