Satzwende: Anna Yeliz Schentke (1/2)

Radioantenne
© Rike Oehlerking

#Sprache I

Wie es sprachlos machen kann, was alles gleichzeitig passiert. Ständig verdrängen neue Geschehnisse diejenigen, die noch immer ablaufen, an denen noch gekaut und geschmeckt wird. Es sind feine Noten, die anregend sein können, aber auch die Zunge lähmende zähe Massen, die im ständigen Wechsel, irgendwann als Klumpen im Gaumen festhängen. Wie Erdnussbutter mit Meerrettichgeschmack. Wie also etwas auf die Sprache bringen? Wie überhaupt erzählen, schreiben, wenn dabei immer etwas verloren gehen muss, wenn immer etwas zu fehlen scheint, zu viel ist, wenn die Zeichen, die zur Verfügung stehen, begrenzt sind und gleichzeitig unbegrenzt Freiheit bieten? Wenn ein Ich schreibt, dann schreibt es nie allein, es schreibt immer in und mit der Welt, mit anderen Ichs, gegen sie an, sich an ihnen ab, durch sie hindurch. Unaufhaltbar verändert es sich, seine Haltung, seine Ideen, verändert sich die Welt. Auch ein Foto ist kein Screenshot von der Welt. Auch kein Live-Stream, auch kein. Dabei hat die Abbildung durch Sprache ihre Berechtigung, sie dient zum Ausruhen vor der nächsten Auseinandersetzung. Texte, die in gewohnten Runden ihre Bahnen schwimmen, sind wichtig, können unterhalten, beruhigen. Wenn aber durch Literatur die Wahrnehmung intensiver wird, sich Fragen nicht beantworten lassen, sondern sich neue stellen, ungeahnte Verknüpfungen entstehen, wenn sie stört oder provoziert, wenn sie ein Ich dazu bringt gewohnte Denkmuster zu hinterfragen, dann hat sie selbst Teil an Veränderung und Gegenwart. Selbst wer sich im Schreiben auf vermeintlich Vergangenes zurückzuziehen versucht, kommt nicht um eine Konfrontation mit der Gegenwart herum, mit sich selbst und mit der Differenz dazwischen. So kann sich die Sprache unter der Last der Veränderung ducken, indem sie versucht, eine Abbildung zu sein, das Original nie greifbar, indem sie versucht, das Was vom Wie im Text zu trennen. Oder sie nimmt das Unaushaltbare an dem Uneindeutigen, Fluiden in sich auf und lässt einen an ihr zum Außerirdischen werden, dessen Antennen nun andere Frequenzen empfangen.  


Anna Yeliz Schentke
© Axel Stiehler

Anna Yeliz Schentke

ist 1990 in Frankfurt geboren, aufgewachsen und lebt auch heute dort. Das letzte Mal in Istanbul war sie Ende 2015. Im Frühjahr 2020 nahm sie an der Schreibwerkstatt der Jürgen Ponto-Stiftung teil und stand im Herbst 2020 auf der Shortlist des Wortmeldungen-Förderpreises. Kangal ist ihr Debütroman und stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022. Schentke erzählt darin furchtlos und aufrichtig von der Freundschaft in instabilen Zeiten. Im Februar ist sie mit dem Buch in unserer Lesereihe Satzwende zu Gast in Bremen.

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