Satzwende: Caroline Wahl (1/2)

Ein aufblasbares Einhorn schwimmt auf dem Meer.
© Meritt Thomas on Unsplash

Der Blick aufs Meer

Während ihres ersten Urlaubs am Meer gab Ida sich das Versprechen, dass sie irgendwann am Meer leben würde, weil es nichts auf der Welt gab, was sie so anzog. „Das Meer, das so krass wunderschön und gewaltig ist, zeigt mir, dass ich mit meinen Nichtigkeiten ganz klein und egal bin. Bedeutungslos.“ 

Und das haben Ida und ich gemeinsam. Seit ich Kind bin, will ich am Meer leben und ich kann immer noch nicht genau begründen, wieso. Damals haben wir regelmäßig Urlaub am Ijsselmeer in den Niederlanden gemacht. Mein Vater hat mir irgendwann erklärt, als wir mit dem Auto über den Abschlussdeich gefahren sind, dass das der Abschlussdeich ist, und dass das Ijsselmeer kein Meer, sondern nur Binnensee ist wegen dem Abschlussdeich. Das war ein Schlag, weil das Ijsselmeer für mich bis dahin Meer war und ich zu dem Zeitpunkt auch bereits verkündet hatte, dass ich, wenn ich groß bin, am Meer leben wolle, ohne je am Meer gewesen zu sein. Jedenfalls haben wir dann einen Ausflug ans richtige Meer gemacht und sind über den Abschlussdeich nach Den Helder an die Nordsee gefahren. Ich weiß noch, wie wir geparkt haben auf dem Parkplatz gegenüber von einem Steakhaus. Wie wir auf dem Fußweg durch die trockenen Dünen eine Schlange gesehen haben, wie ich währenddessen meine Luftrobbe aufgeblasen habe, um bestens vorbereitet zu sein für den Strandtag. Wie ich die letzten Meter durch die Dünen mit meiner halb aufgeblasenen Robbe in den Armen vorgerannt bin. Und dann habe ich es gehört. Das Rauschen. Und als ich es dann gesehen habe, musste ich mit den Füßen im feinen Sand stehen bleiben. War baff. Hab mich umgedreht und meinen Eltern und Geschwistern zugebrüllt: „Schaut mal!“. Hab auf das Meer gezeigt. Die waren nicht so baff, aber die hatten ja schon viele Meere gesehen und die waren eh mehr so Berg- und Mittelgebirge-Typen. Ich war jedenfalls baff.


Und daran hat sich nicht viel geändert. Ich bin auch heute noch baff, wenn ich es dann erblicke. Gerade gestern, als ich an der Parkstraße in Warnemünde geparkt habe, die 500 Meter am Ostsee-Parkhaus vorbeigelaufen bin und es dann gesehen habe durch die Mini-Dünen: das Meer, die Ostsee, war ich kurz baff. Ich kann Menschen nicht verstehen, die nicht verstehen können, dass ich in der Nähe vom Meer leben will, dass mir das Meer so viel gibt, wie kein anderer Ort, noch nicht einmal Familie. 

Das Meer erdet mich, dieser Blick ins Offene, ins Weite, keine Häuser, keine Bäume, keine Berge, die ablenken, nur Wellen, die ins Endlose zu treiben scheinen und ab und zu ein Schiff am Horizont, bei dem man nur raten kann, wohin in die große Welt es fährt. Das ist alles so groß, so tief, so weit, so offen, so stark, dass ich es nicht fassen kann und das ist irgendwie gut.


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Caroline Wahl
© Frederike Wetzels

Caroline Wahl

wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. 2023 erschien ihr erster Roman, der Spiegel-Bestseller 22 Bahnen, bei DuMont, für den sie mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet wurde. Außerdem wurde 22 Bahnen Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023. 2024 folgte der zweite Roman Windstärke 17. Caroline Wahl lebt in Rostock.

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