Satzwende: Caroline Wahl (2/2)

Wellen vor dunkel bewölktem Himmel.
© Rike Oehlerking

Reintauchen

Ida weiß noch, wie sie sich damals bei ihrem ersten Meer-Besuch vorstellte, dass ihre Mutter auch dabei und nicht zu Hause geblieben wäre. Sie stellte sich vor, dass sie mit ihr am Strand sitzen würde und sie beide aufs Meer blicken und schweigen würden. Dass die Mutter das Meer genauso krass wunderschön und gewaltig fand wie sie, dass sie es genauso sah wie sie. „Wenn eine Sturmflut käme, stellte ich mir vor, dann würden die Wellen Mama und mich mitreißen. Die Wellen würden auch eine andere Mama und ihr Kind mitreißen, wenn sie am Strand säßen. Die Wellen würden alle Menschen am Strand mitreißen. Und irgendwie mochte ich es, dass es dem Meer scheißegal war, ob Mama Alkoholikerin oder keine Alkoholikerin war, ob sie eine schlechte oder eine gute Mutter war. Es war ihm scheißegal. Alle waren gleich, das Meer war wunderschön und gewaltig, und wenn die Menschen keinen Respekt vor ihm hatten, waren sie selbst schuld.“


Und diese im gewissen Maß auch grausame Vorstellung finde ich wie Ida tröstlich. Dass wir und unser Theater dem Meer scheißegal sind und dass wir gefälligst Respekt vor dieser gewaltigen Schönheit haben sollen, das tröstet mich und feuert mich gleichermaßen zu Demut und Größenwahnsinn an.

Als ich gestern an der Ostsee saß, gab es zum Glück keine Sturmflut, die mich mitreißen wollte. Die Ostsee lag da ganz friedlich und still vor mir, stahlblauer Himmel über ihr. Ich saß da und schaute aufs Wasser und irgendwann ging die Sonne unter. Ich saß da so klein und unbedeutend am Meer und dachte, dass doch irgendwie alles gut ist und dass sowieso alles egal ist, aber im positiven Sinne.


Das klingt alles kitschig und pathetisch und irgendwie haltlos und das Absurde ist, dass ich als Erwachsene – Sie merken es – immer noch nicht genau beschreiben kann, was mich seit jeher so ans Meer zieht außer dieser Blick und dieses Gefühl beim Blick aufs Meer. Aber wenn ich zum Beispiel länger im Landesinneren auf Lesereise bin, dann fühlt sich der Gedanke ans Meer und die Ostsee ein bisschen an wie verliebt sein. Da ist ja noch jemand, der auf mich wartet. Alles ist gut oder alles wird gut. Und im Gegensatz zu der Verliebtheit sonst, weiß ich, dass diese Verliebtheit, diese Liebe bleibt, dass die Ostsee erst einmal nicht aus meinem Leben treten wird, dass dieser Verliebtheit nicht wie sonst so oft ein Messerstich in den Bauch folgen wird. Ganz im Gegenteil: sie wartet dort oben ohne zu warten.

Und das Krasseste ist dann das Wiedersehen, das Reintauchen, das ist das schönste Gefühl überhaupt. Auch für Ida:

„Jedes Mal wenn ich ins Meer schwimme, gebe ich ihm die Möglichkeit, mich mitzureißen, mich zu töten, und es tut es nicht. Das rechne ich ihm hoch an. Dass es bei jedem Wetter so wunderschön vor mir liegt, manchmal wild tanzt und mich trotz meiner scheinbaren Respektlosigkeit nicht töten will. Ganz selten habe ich das Gefühl, und das ist das schönste Gefühl, dass es mich auch ein bisschen als Teil von sich akzeptiert. Vielleicht denkt es manchmal, denke ich, dass ich ein Fisch bin oder eine Meerjungfrau.“


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Caroline Wahl
© Frederike Wetzels

Caroline Wahl

wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. 2023 erschien ihr erster Roman, der Spiegel-Bestseller 22 Bahnen, bei DuMont, für den sie mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet wurde. Außerdem wurde 22 Bahnen Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023. 2024 folgte der zweite Roman Windstärke 17. Caroline Wahl lebt in Rostock.

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