Satzwende: Helene Bukowski (1/2)

Flugzeug
© Rike Oehlerking

Blutende Stuten I

Ich saß in einem Flugzeug von Jakarta nach Doha, als ich von einem Mann träumte, der sich im Bauch einer Stute befand. In dem Traum schnitt er sich mit einem Messer heraus, stieg aus dem warmen Fleisch und ging davon, ohne sich noch einmal nach der verblutenden Stute oder mir, die ich neben dem Tier auf dem Boden saß, umzudrehen. Als ich aus diesem Traum aufschreckte, befand sich mein Körper in einer stark zusammengekrümmten Position. Alles von mir hatte sich an den linken Rand des Sitzes geschoben, während mein Sitznachbar, seit unseres An-Board-Gehens, beide Armlehnen beschlagnahmte und auch darüber hinaus Anspruch auf möglichst viel Platz zu haben schien.

In Doha begann gerade ein Morgen. Beim Passieren einer riesigen Glasfront sah ich den Wüstenstand aufleuchten und mein Gesicht, das schemenhaft blieb, als hätte ich mich noch nicht aus meinem Traum befreit. Ich stolperte in die Damentoilette und verharrte, überrascht über die Szenerie, in die ich hineingeraten war. Mehrere Frauen standen an den Waschbecken, putzen sich die Zähne, wuschen sich das Gesicht, richteten sich das Kopftuch, den Pullover, den Sari. Nur das Geräusch des fließenden Wassers war zu hören. Erst jetzt merkte ich, dass ich die ganze Zeit meine Schultern nach oben gezogen hatte, ich ließ los, gab nach, atmete aus, und stellte mich zu den Frauen, spürte ihre Nähe. Keine von uns sprach ein Wort, aber wenn sich unsere Blicke im riesigen Spiegel an der Wand begegneten, lächelten wir uns zu und ich hatte Klaus Theweleit im Kopf, wie er in seinem Buch Männerphantasien darüber schreibt, dass Brunnen die sozialen Treffpunkte der Frauen gewesen waren, bis Wasserleitungssysteme in den Häusern eingeführt wurden und die Frauen voneinander isolierten.

Auch auf meinem Flug von Doha nach Berlin blieb mir nur die linke Armlehne. Ich schlief nicht. Die Zeit verlief rückwärts, es wurde nicht Abend und als wir landeten, erlebte ich den Morgen ein zweites Mal. Ich trat in Berlin aus dem Flughafen und ins gleißende Licht, während es in Jakarta bereits wieder dunkel wurde und die Nacht begann. Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen Körper ganz mitgebracht hatte, ob sich nicht ein Stück von mir noch immer in Doha, oder vielleicht sogar in Indonesien befand, denn ich fühlte mich benommen und nicht ganz vollständig, schlug aber trotzdem das Angebot eines Taxifahrers aus, der mich auf der Rückbank seines Autos bis in die Stadt fahren wollte. Ich konnte meinen Körper in diesen Moment nicht in andere Hände geben.

Am nächsten Tag ging ich ins Theater. Vollständig fühlte ich mich noch immer nicht und auch über die Stille stolperte ich, die ich vor meiner Reise nach Indonesien nie als solche wahrgenommen hatte, im Gegenteil, Berlin war mir immer laut vorgekommen. In Jakarta aber hatte ich von meinem Hotelzimmer auf eine Straße geblickt, auf der der Verkehr sich unaufhörlich in eine Richtung zog. Ich hatte das Fenster nicht öffnen können und trotzdem waren die Geräusche zu mir ins Zimmer gedrungen, hatten sich vermischt mit dem Rauschen der Klimaanlage und den Stimmen aus anderen Räumen. In Berlin lag ich in meinem Bett und das einzige, was ich hörte, war, wie einzelne Blätter des Kastanienbaumes in den Hof fielen.

Durch die neu wahrgenommene Stille in Berlin kam es mir vor, als befände ich mich unter Wasser. Dieses Gefühl verflüchtigte sich selbst dann nicht, als ich in die U-Bahn stieg, nach Mitte fuhr, die Treppen nach oben hastete und die Volksbühne betrat, obwohl es lauter um mich herum geworden war. Dieses Gefühl verflüchtigte sich erst, als ich L. sah, die mich auch sah. Es war Zufall, dass wir uns dort trafen, wir hatten uns nicht verabredet. Wir stürzten aufeinander zu und ich in ihre Arme und es hätte mich nicht gewundert, wenn sich in unserer Nähe ein Brunnen aufgetan hätte. Lösen mussten wir uns voneinander, weil das Signal erklang, dass das Theaterstück mit dem Titel Ophelia‘s Got Talent in wenigen Minuten beginnen würde und ich einen Platz im Rang hatte und L. in der Loge, aber wir verabredeten uns, für danach im Foyer. Als ich mich setzte und das Licht ausging, spürte ich noch immer L.s Umarmung. Und meinen eigenen Körper, in seiner Vollständigkeit.

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Porträt von Helen Bukowski
© Rabea Edel

Helene Bukowski

wurde 1993 in Berlin geboren und lebt heute wieder in ihrer Geburtsstadt. Sie studierte am Literaturinstitut Hildesheim und leitet neben dem Schreiben auch Kurse und Workshops für Kreatives Schreiben. 2019 erschien ihr Debütroman Milchzähne, für den sie u. a. für den Mara-Cassens-Preis, den Rauriser Literaturpreis und den Kranichsteiner Literaturförderpreis nominiert war. Im Jahr 2021 leitete Helene Bukowski das Projekt Bremer Schulhausroman an der Bremer Oberschule in den Sandwehen. 2022 erschien ihr zweiter Roman Die Kriegerin.

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Satzwende: Stephan Lohse

Die Satzwende von Stephan Lohse zum Thema Haut erinnert an den Anschlag auf die Synagoge der Jüdischen Gemeinde zu Halle. Ein Text, der unter die Haut geht. Über ihn spricht Lohse auch bei seiner Lesung in Bremen in der Reihe Satzwende.