Umgeblättert: Armleuchteralgen II

Hand blättert um
© Rike Oehlerking

Drei Tage später steht er vor ihrer Haustür, als sie gerade zur Schule will. Noch ist es fast frisch, aber der Sommertag steht schon in den Startlöchern, sie auf kleiner Flamme zu garen.

„Ist es das?“

Sie muss nicht fragen, was er meint. Ist es das?  Klar ist es seine Schuld. Die Bilder sind eingebrannt seit dem Tag. Spitze Schreie in der Nacht, weil der schlammige Boden so glitschig ist. Kichern, ein Platschen. Sie hockt allein und ein wenig enttäuscht auf einer vorstehenden Wurzel, die sich schleimig anfühlt, ihre Zehen berühren die Wasseroberfläche, schwarz, gebrochen nur durch den fast vollen Mond, der auf ihr schwimmt wie ein dicker Fisch. Sie haben nur Augen für einander. Sie ist ihnen egal. Was soll es hier im See geben? Armleuchteralgen? Sie sieht mehrflammige Leuchter durch die Dunkelheit unter ihr schweben, eine eigene Welt, den Blicken der Menschen verborgen. Alles ist so unwirklich, das Handtuch klamm. Sie fröstelt, möchte nach Hause. Wie der Vorhang einer Theatervorstellung reißt eine Wolke den Schatten vor dem Mond fort.


Spot on für das knutschende Pärchen. Nur ihre Köpfe ragen aus dem Wasser, verknotete, feuchte Zungen. Ihr Herz stolpert, während ein bodenloses Loch sie verschlingt. Ausgerechnet ihre beste Freundin. Sie weiß doch, was sie für ihn ... Dann spritzt es, ein Stoß, sie lösen sich voneinander, kichern, er krault hinter ihr her, tunkt sie unter, sie balgen und raufen. Sie möchte rufen, sie warnen, doch ist wie erstarrt. Dann wird es still. Kein Kichern mehr, keine Kussgeräusche, nur ein Kopf über der Wasseroberfläche, der hin und her schnellt. Dann laut: „Anna?“ Schriller. „Anna! Das ist nicht witzig!“ Er taucht, aber nur kurz, prustet. Zu dunkel. Zum Ufer: „Hilf mir doch, verdammte Scheiße!“ Sie springt auf, glitscht aus. Schnappt ihre Sachen, greift in den Rucksack. Das Handy, es ist nicht da. Wo ist das verdammte Handy?

Es ist zu still, nur sein Platschen an der Oberfläche. Sie läuft zurück. „Wo ist dein Handy?“ Gleichzeitig denkt sie an das Raufen, Tunken, Balgen. Polizei, Rettungskräfte. An ihn. An sich.

Sie ist bestimmt nach Hause gefahren. Ein Streich. So ist sie doch. Sie ist zum Ufer getaucht, die perfekte Schwimmerin. Wusste genau, dass sie auf sie wütend sein würde. Ist dann weggeschlichen oder sitzt im Busch und lacht sich eins. Macht Drama. Ist voll drauf.

Mit hängenden Armen steht sie da. Er treibt im Wasser, verwirrt und erschöpft. Wie lange ist es jetzt her? Zehn Minuten? Sie muss im Busch sitzen.


Saß sie aber nicht. Ebenso wenig, wie sie die Polizei riefen. Stattdessen trotteten sie den Weg nach Hause, trennten sich an der Gabelung. Und als sie sich an ihn schmiegen wollte, stieß er sie weg. Das Erwachen am nächsten Morgen, wie ein Hammerschlag auf den Kopf. Wie sollten sie jetzt noch etwas sagen können?

Was sollte sie jetzt sagen, wo er wieder vor ihr steht? Der sie ein ganzes Jahr ignoriert hat, der so heftige Gefühle in ihr auslöste, Angst, Schuld. Neben der Sehnsucht. Und jetzt will er von ihr wissen, ob er es war?

„Natürlich. Ihr habt doch im Wasser getobt ...“ Eine verinnerlichte Wahrheit. Und sie schützt ihn schließlich. Immer noch. Er nickt, seine Augen sind dunkel und schauen durch sie hindurch. Als würde er sie auf schwebende Armleuchter richten, die ihm den Weg in eine andere Welt weisen. Er dreht sich um, grußlos. Sie bekommt Gänsehaut, schwingt sich aufs Fahrrad. Bloß weg. Er kann sie mal. Als ob er wegen ihr gekommen wäre.


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Meike Dannenberg

ist Literaturredakteurin beim Magazin BÜCHER. Ihre Kriminalromane Blumenkinder (2016) und Gefährdet (2019) aus der Reihe um die BKA Ermittlerin Nora Klerner und den Fallanalytiker Johan Helms sind bei Randomhouse/btb erschienen. Seit 2013 lebt sie mit ihrer Familie in Bremen.

Zum Autorinnenprofil von Meike Dannenberg

Porträt von Meike Dannenberg
© Linda Heyat

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