Unter dem Motto „Das Buch als Ort, der Ort als Buch“
Im Rahmen des internationalen Literaturfestivals Prima Vista führte mich meine Reise im Frühling nach Tartu. Eine Stadt, deren Name mir zunächst kaum etwas sagte. Doch schon bald wurde klar: In Tartu ist Literatur kein abgeschlossener Raum, sondern ein lebendiger Teil des Alltags.
Der Fluss Emajõgi, der durch die Stadt Tartu fließt, symbolisiert das ständige Wandeln, Verbindung und Bewegung; genau wie die Literatur, die hier gefeiert wird. Unter dem Motto „Das Buch als Ort, der Ort als Buch“ wurde das Festival zu einer Entdeckungsreise, bei der Texte nicht nur gelesen, sondern erlebt wurden: die Literatur wurde zu einem Fluss, der Orte und Menschen miteinander verbindet. So wie der Emajõgi das Stadtbild prägt und lebendig hält, war auch die Literatur in Tartu nicht statisch, sondern in Bewegung – durch die Begegnungen, neue Perspektiven und vielfältige Ausdrucksformen der Autoren.
Tartu trägt nicht umsonst den Titel UNESCO City of Literature. Die Literatur wird hier nicht nur geschrieben, sondern gelebt: in Bibliotheken, an Brücken, auf Mauern, in Cafés und Schulprojekten. Die Idee, dass ein Ort selbst wie ein Buch gelesen werden kann, war bei vielen Veranstaltungen spürbar. Die Spaziergänge führten zu Geschichten, die Gärten hatten Schilder mit Gedichten, die Gespräche waren lebendige Erzählungen.
Gleich nach meiner Ankunft überraschte mich die Offenheit der Menschen. Eine Fremde, die meinen Namen las, sprach mich spontan auf Spanisch an – wir wechselten in wenigen Minuten dreimal die Sprache. Dieser Moment stand sinnbildlich für das, was ich in Tartu erlebte: Verbindungen über Sprachen und Herkunft hinweg, getragen von Neugier und Respekt.
Das Festival war klug und liebevoll kuratiert. Die Veranstaltungen fanden an ganz unterschiedlichen Orten statt – von der Stadtbibliothek („raamatukogu“) bis zum alten Observatorium. Jugendliche aus den deutschen Schulen in Tartu präsentierten Literatur mit neuen Medien – lebendig, überraschend und originell. Auch die vielsprachige, experimentelle Gegenwartsliteratur Estlands war präsent, oft geprägt durch multilinguale Texte, digitale Formate und poetische Grenzgänge zwischen Musik, Sprache und Bild.
Meine eigene Lesung fand gemeinsam mit Julia von Lucadou statt, moderiert von der estnischen Autorin Kai Aareleid. Wir sprachen über die Orte in der Literatur. Ich las meine Texte auf Deutsch, und das Publikum hielt die estnische Übersetzung in den Händen. Ein Gedicht war mehrsprachig. Ich sprach über das Schreiben zwischen Kulturen. Kein Stuhl blieb leer, und die Zufriedenheit lag förmlich in der Luft.
Für mich war das Festival voller Höhepunkte, nicht nur die persönlichen Begegnungen mit vielen Autoren, sondern auch die Veranstaltungen, die das Festival schmückten. Besonders eindrucksvoll war der Auftritt des estnischen Musikers Silver Sepp, der auf selbstgebauten Instrumenten spielte – Klänge aus Holz, Wasser und Metall füllten den Platz vor dem Observatorium. Auch hier verschmolzen Raum, Klang und künstlerische Erzählung zu einem gemeinsamen Erlebnis.
Ein weiteres Highlight war meine Filmpräsentation im Kino „Elektriteater“, einem ehemaligen Kirchenraum. Ich stellte den brasilianischen Film City of God (2002) vor. Alles drehte sich um Licht, Schatten, Gewalt, Armut und Lateinamerika. Auch das war Literatur in Bewegung; in Bildern, Stimmen, Erinnerungen.
Unterwegs war ich dabei nicht allein: Mit Julia von Lucadou, mit der ich auch gemeinsam las, Markus Thielemann und Linda Jahilo (die Leiterin der deutschsprachigen Sektion) entstand eine kleine, lebendige Gemeinschaft. Wir besuchten Veranstaltungen, diskutierten Texte, tauschten Anekdoten, oft am selben Tisch, oft im selben Rhythmus. Auch das Team des Goethe-Instituts Estland, Mitglieder des Germanistik-Instituts der Universität Tartu sowie das Deutsche Kulturinstitut Tartu waren Teil dieses lebendigen literarischen Austauschs (eine freundliche Allianz mitten im Festivalgeschehen).
Tartu selbst war leise und freundlich. Eine Stadt, die nicht laut werden muss, um zu berühren. Der Fluss Emajõgi wurde mein ständiger Begleiter. Die Spaziergänge am Ufer, die Texte an den Wänden, die Gespräche über Bücher: Genau hier wurde das Festivalmotto lebendig. Die Orte wurden zu Seiten, die Begegnungen zu Kapiteln, Tartu zu einem offenen Buch.
Was dieses Festival für mich besonders machte, war nicht nur das literarische Programm, sondern die Atmosphäre: nahbar, offen, menschlich. Ich habe das Gefühl, dort als Autor wirklich angekommen zu sein; in einer Stadt, in einem Netzwerk, in einem Moment des Austauschs, der bleibt. Ich traf Menschen aus Nord- und Osteuropa, aus dem Baltikum, aus Deutschland und darüber hinaus, die ganz anders lebten, dachten oder schrieben als ich. Diese Begegnungen führten zu Gesprächen, neuen Kontakten, zu Verbindungen, die vielleicht in meinen Büchern, Ideen oder künftigen Projekten weiterwirken.
Aitäh Tartu, aitäh Prima Vista.
Text: Ernesto Salazar-Jiménez
Ernesto Salazar-Jiménez
wurde in Caracas, Venezuela, geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland. Seit 2016 ist er Mitglied der Schreibgruppe des Blaumeier Ateliers. Seit 2017 nimmt er an zahlreichen Workshops und Lesungen des Bremer Literaturkontors und der Bremer Literaturszene teil. Kurzgeschichten veröffentlicht in: Grenzen (Blaumeier 2018), So nimmt man das Leben mit (Sujet Verlag 2019), Blaumeier oder der Möglichkeitssinn (Blaumeier 2020), Das grüne Ding (Blaumeier 2021). Eine Probe seiner Prosa-Texte ist auch in der MiniLit Nr. 14 des Bremer Literaturkontors zu sehen.
Lesezeichen von Ernesto Salazar-Jiménez