Lesezeichen: Ursel Bäumer

© Rike Oehlerking

LOUISE
von Ursel Bäumer

Ich weiß nicht, was ich dir noch erzählen kann, Maman. Alles kommt mir so nutzlos vor ohne dich. 

Ich habe Angst, meinen Platz hier neben dir zu verlassen. Ich bin nur noch die, die Angst hat. Die Angst um dich hat, die Angst, du könntest die nächste Stunde nicht überleben. 

Maman. 
Ich halte deine Hand.
Ich bleibe bei dir, bis der Morgen kommt, der nächste Tag. Ich werde niemals fortgehen. 
Ne me quitte pas. 
Do not abandon me. 
Geh nicht.

Nicht aufhören zu atmen, Maman. 
Das wirst du nicht tun, hörst du! 
Heute ist der vierzehnte September, ein stürmischer Herbsttag, alle Wolken sind wie weggefegt.
Die Eule sitzt nicht mehr vor deinem Fenster. 
Alles wird wieder so werden, wie es war. Alles wird gut. Alles wird gut.

 

Du öffnest deine Augen, lächelst matt.
Und als ich mein Ohr ganz nah an deinen Mund halte, höre ich wie du meinen Namen flüsterst:

Louise.

Noch einmal, so leise, dass ihn außer mir niemand hören kann: Louise.
Und dann ist es mit einem Schlag still.
Das Haus ruhig, das Rauschen der Pappeln plötzlich verstummt, nur diese Stille und inmitten der Stille das Ticken der großen Pendeluhr im Flur und mein pochender Herzschlag.
 


Ich rolle mich in Mamans Decken ein, vergrabe mein Gesicht in ihren Kissen. Ich will nichts anderes, nur hier in ihrem Bett bei ihr sein. Ich verlasse dieses Zimmer nie mehr. 

Den ganzen Tag über stürmt es schon. Die letzten Äpfel und Birnen fallen von den Bäumen. Ich werde die vorbeifegenden Wolken beobachten, die Krähen am Himmel, die scheinbar still in der Luft stehen, um sich anschließend von einer Böe forttragen zu lassen. Werde Mamans Geruch in Laken und Kissen einatmen und hören, wie sie meinen Namen flüstert: 

Louise. Meine kleine Louise. 

Ich werde wie Maman nachts die Sterne zählen und wie sie traumverloren Wände und Zimmerdecke anstarren, zerschlissene Magnolienblüten, Lilien und Rosen sehen und nach Farben suchen, nach Rot- und Weißtönen und nach dem Blau für die ramponierten Schwanzfedern des Pfaus. Ich werde das Murmeln der Flüsse hören, der Bièvre, der Seine und der wilden Creuse und ein letztes Mal verschwommen Mamans Umrisse erkennen.

Wie sie auf dem Balkon hinter blühenden Geranien steht, vor den erleuchteten Fenstern ihres Elternhauses in der Rue Vaveix 108, dem Haus mit den schmiedeeisernen Gittern an der Haustür und den Initialen F. 

F  für Fauriaux, ihrem Mädchennamen. 
 

Das Lesezeichen besteht aus zwei Auszügen aus Ursel Bäumers LOUISE (Nagel und Kimche Verlag 2023).


Ursel Bäumer

studierte Germanistik und Kulturwissenschaft in Münster und Bremen. Nach dem 1. und 2. Staatsexamen war sie zunächst als Gymnasiallehrerin in Bremen tätig und entschied sich dann für ein Leben als freie Schriftstellerin. Sie gründete 2005 den gemeinnützigen Verein workshop literatur e.V., der literarische Veranstaltungen für Bremer Oberstufenschüler*innen organisierte und den sie bis 2014 als Vorsitzende leitete. Ursel Bäumer schreibt Romane, Erzählungen und Kurzprosa. 2011 erschien ihr erster Roman Zeit der Habichte im Dörlemann Verlag. Für ihre schriftstellerische Arbeit wurde Ursel Bäumer mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2021 mit dem Projektstipendium der Freien Hansestadt Bremen für das Schreibprojekt MAMAN, das sie 2022 als Writer in Residence in der Bremer Landesvertretung in Berlin erfolgreich vollendete und als Louise bei Nagel und Kimche veröffentlichte.

Zum Autorinnenprofil  von Ursel Bäumer

Porträt von Ursel Bäumer
© Melanie Hammer

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