Lesezeichen: Ursel Bäumer (2/2)

Das Bild zeigt eine grüne Raupe.
© Rike Oehlerking

LOUISE
von Ursel Bäumer

Ich war eine Raupe, die so lange Seide aus ihrem Maul zog, um ihren Kokon zu bauen, bis sie aufgebraucht war und starb.

Ich bin der Kokon.

Ich habe kein Ich. 

Ich bin mein Werk.

Ich bin Twosome, das höllisch rot leuchtende Ungetüm, das sich mit zwei ungleich großen Zylindern auf Schienen aufeinander zu und auseinander bewegt. 

Einatmen und ausatmen. 

Sich aufnehmend und ausstoßend. 

Sex und Geburt. 

Ich bin die aus Stoffstreifen zusammengeflickte Frau unter einer Glasglocke, dem Blick von außen vollkommen ausgeliefert und doch durch eine zerbrechliche Wand isoliert.

Ich bin Femme, die Schwangere aus Bronze, die am Bauchnabel aufgehängt von der Decke baumelt, hilflos dem Muttersein übergeben.

Ich bin der gestrickte Januskopf mit zwei Gesichtern, das Zusammentreffen sich widersprechender Extreme: Hass und Liebe, Erinnern und Vergessen, Verwundbarkeit und Gewalt, Erdulden und Handeln, Zerstören und Zusammenfügen, Festhalten und Loslassen.

Ich bin Do-Undo-Redo, drei überdimensional große Mahnmale für die Triebfedern menschlichen Handelns: 

Sich bemühen. Scheitern. Es noch einmal versuchen. 

Ich bin You better grow up, eine Zelle aus Maschendraht und Glas mit Spiegeln, die sich um die eigene Achse drehen und den Innenraum mit seinen rätselhaften Gegenständen verzerren. Eine beängstigende Welt für ein Kind, dessen kleine Hände in einer großen liegen, einer erwachsenen Hand, in einem Marmorblock fixiert. 

Ich bin die Erinnerung an das hilfsbedürftige Kind, das Liebe braucht. Dessen Angst verhindert, die gespiegelte Welt der Erwachsenen zu verstehen.

Ich bin die Erinnerung an das Kind, das erwachsen werden muss, um sich in der verworrenen Welt zurechtzufinden.

Ich bin meine Kunst.
 


Das Lesezeichen besteht aus einem Auszug aus Ursel Bäumers LOUISE (Nagel und Kimche Verlag 2023).


Ursel Bäumer

studierte Germanistik und Kulturwissenschaft in Münster und Bremen. Nach dem 1. und 2. Staatsexamen war sie zunächst als Gymnasiallehrerin in Bremen tätig und entschied sich dann für ein Leben als freie Schriftstellerin. Sie gründete 2005 den gemeinnützigen Verein workshop literatur e.V., der literarische Veranstaltungen für Bremer Oberstufenschüler*innen organisierte und den sie bis 2014 als Vorsitzende leitete. Ursel Bäumer schreibt Romane, Erzählungen und Kurzprosa. 2011 erschien ihr erster Roman Zeit der Habichte im Dörlemann Verlag. Für ihre schriftstellerische Arbeit wurde Ursel Bäumer mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2021 mit dem Projektstipendium der Freien Hansestadt Bremen für das Schreibprojekt MAMAN, das sie 2022 als Writer in Residence in der Bremer Landesvertretung in Berlin erfolgreich vollendete und als Louise bei Nagel und Kimche veröffentlichte.

Zum Autorinnenprofil  von Ursel Bäumer

Porträt von Ursel Bäumer
© Melanie Hammer

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