Lesetipp: Janika Rehak empfiehlt

So wie Eltern ihre Kinder in ihren Fantasiewelten belassen, beließ ich auch meine Mutter in ihrer Welt. Wenn sie mit der Lampe sprach oder den Magier kontaktierte, war das wie ein fernes, aber gewohntes Hintergrundrauschen. (…) Doch immer wieder tat sich ein Abgrund zwischen den verschiedenen Welten auf.“

Cover Als Mama mit der Lampe sprach

In der Deckenleuchte haust ein Spion, überall lauern wilde Tiere und andere Schreckgestalten, der Schutzpatron ist ein Magier, doch auch er ist nicht immer loyal. Es klingt wie ein modernes Märchen, Urban Fantasy, vielleicht auch wie der Plot der neuesten Netflix-Serie. Für Nilüfer Türkmen (24) war es jahrelang Realität. Sie wuchs mit einer schizophrenen Mutter auf. Über diese Erfahrung hat sie ein Buch geschrieben. 

Ein Mann und eine Frau lernen sich kennen und lieben und bekommen eine Tochter. Soweit, so üblich. Wenige Jahre später: Der Vater stirbt an einem Gehirntumor, die Mutter hat Schizophrenie. Die kleine Nilüfer ist zu diesem Zeitpunkt 4 Jahre alt. Von da an lebt sie in einer Wohnung in Bremen/Blockdiek, gemeinsam mit der Mutter, mit Lampen-Spionen und weiteren skurrilen Mitbewohner*innen. Das Mädchen hinterfragt nicht, erst in der Grundschule wird ihr klar, dass einiges so nicht stimmen kann. Mit neun kommt Nilüfer in eine Einrichtung für Jugendliche. Durchatmen kann sie erst, als ihre Mutter ebenfalls ins betreute Wohnen aufgenommen wird. Doch noch immer fühlt Nilüfer sich verantwortlich, sorgt sich ständig, unterstützt die Mutter, wo sie kann. Bis sie merkt, dass sie vor allem für ihr eigenes Leben verantwortlich ist.

Als Mama mit der Lampe sprach ist eine spannende Coming-of-Age-Story, eine Mutter-Tochter-Beziehung, ein ungewöhnlicher Blick auf das Krankheitsbild Schizophrenie, aus Kinderperspektive, aus Sicht einer Heranwachsenden und aus der Sicht der erwachsenen Tochter. Nilüfer Türkmen ist heute neben ihrem Studium (Politikwissenschaft und Jura) Referentin für Schizophrenie und setzt sich für Aufklärung und Sensibilisierung ein.

Sicherlich hätte Nilüfer sich bessere Bedingungen für ihren Start ins Leben vorstellen können. Sie hätte sich gern weniger gekümmert und wäre gern selbst mehr umsorgt worden. „Ich werde mich vermutlich auch nie ganz davon frei machen können“, glaubt die Autorin. „Ich spüre bis heute, auch über Kilometer hinweg, wenn es meiner Mutter nicht gut geht.“ Dennoch wusste Nilüfer immer, dass ihre Mutter sie liebt: „Das hat mir die Kraft gegeben, mich selbst und andere zu lieben. Ohne diese Liebe wäre ich nicht, wo ich heute bin.“

Fazit: Genau das hat mir an dem Buch von Nilüfer Türkmen so gut gefallen: Es ist keine bittere Lebensbeichte, hier wird kein latenter Voyeurismus bedient. Es gibt Momente der Wut und Überforderung, auch beim Lesen, z.B. wenn ein Kind versucht, neben dem eigenen Alltag auch noch das Leben der Mutter zu managen und sich damit notwendigerweise aufreiben muss. Nilüfer Türkmen schreibt frei von Vorwürfen, unaufgeregt, liebevoll – und natürlich mit Erlaubnis der Mutter.

ALS MAMA MIT DER LAMPE SPRACH. MEIN LEBEN MIT EINER SCHIZOPHRENEN MUTTER | Nilüfer Türkmen | SACHBUCH Bastei Lübbe | Köln 2021 | 189 S. | €11,00


Janika Rehak

wurde 1983 geboren und wuchs in der Lüneburger Heide auf, studierte in Hannover und arbeitet heute als Autorin, Texterin und Journalistin, unter anderem für das deutsch-tschechisch-slowakische Onlinemagazin jádu. Sie schreibt Romane (bislang unter Pseudonym), Kurzgeschichten und Flash Fiction, gern mit surrealen Inhalten.
Janika Rehak begeistert sich für Japan, die 1920er Jahre sowie für Märchen aus aller Welt und freut sich über ihre stetig wachsende Sammlung an Graphic Novels. Als Autorin ist sie fasziniert von Brüchen und Umbrüchen in Menschen, Beziehungen, Gesellschaften. Besonderes Herzensthema: Die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Kunst.

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Porträt von Janika Rehak
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