Satzwende: Hengameh Yaghoobifarah (2/2)

Fans halten Pyrotechnik hoch.
© Sebastian Pociecha on Unsplash

Zeit der Unschärfe - Teil 2

Monatelang fragte ich mich also, wie ich das Dickicht aus unterschiedlichen Narrativen, Standpunkten und Informationen durchbrechen sollte, das zwischen mir und einem Teil meines Umfelds gewachsen war. Ohne die nötigen Gespräche geführt zu haben, fiel es mir schwer einzuschätzen, wessen Standpunkt mit meinem eigenen vereinbar sein könnte und wo sich vielleicht doch Verschwörungsmythen so sehr festgesetzt hatten, dass die Diskussionen zwecklos würden. 

Tatsächlich beobachtete ich, dass die polarisierendsten Reaktionen und Projektionen auf den Krieg häufig von Menschen kommen, die keine biografischen Bezüge zur betroffenen Region haben, sondern bequem in europäischen oder nordamerikanischen Großstädten leben und von ihrer Couch aus wie bei einem Fußballspiel ihr Team anfeuern. Beim Abendessen sagt eine Freundin von mir: „Aber bei diesem Fußballspiel reicht es nicht aus, einfach nur zu den Spielen zu gehen. Man muss Pyrotechnik mitnehmen und ausrasten.“ „Ja“, füge ich hinzu, „und als Hooligans die Fans der gegnerischen Mannschaft verkloppen oder vom Spielfeld verbannen lassen.“


Meine Therapeutin sagt, es ist zwecklos, andere überzeugen zu wollen. Dass wir lernen müssen unsere Differenzen auszuhalten, auch wenn es extrem schwer ist. Sie sagt auch, dass eine Diskussion nur dann möglich ist, wenn alle Beteiligten Interesse am Gegenüber haben. Ich denke, dass es eine graduelle Abwägungssache ist.

Klar können wir jedes Symbol, jeden Begriff und jede Parole streng unter die Lupe nehmen und nach Anhaltspunkten suchen, unserem Gegenüber das schlimmste zu unterstellen, ohne überhaupt mal eine Gegenfrage gestellt zu haben. Weniger Böswilligkeit und mehr Bemühungen der Selbstkritik müssen wir alle aufbringen. Entweder wir begegnen uns alle mit pedantischer Härte und Abwehrhaltung gegen jegliche Kritik, oder wir verpflichten uns dem gegenseitigen Verständnis und der Suche nach Gemeinsamkeiten. 


Das Ausmaß des Kriegs ist mittlerweile grauenvoll, und die Gräben in den Nebenschauplätzen wirken unüberwindbar. Gleichzeitig habe ich in den vergangenen Monaten auch einige Gespräche geführt, die mir wider Erwartens Hoffnung gebracht haben. Nach stundenlanger Diskussion festzustellen, dass der gemeinsame Nenner eigentlich ziemlich groß ist, gibt mir Kraft. Ja, es ist eine Zeit der Verluste, doch es ist auch die Zeit des Perspektivwechsels und der Gleichzeitigkeiten.

© Lior Neumeister

Hengameh Yaghoobifarah

wurde 1991 in Kiel geboren, ist Jouralist*in und Autor*in. Ab 2011 Studium der Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik an der Universität Freiburg. Seit 2014 ist Berlin die Wahlheimat. Dort arbeitet Yaghoobifarah als Redakteur*in für das Missy Magazine. Außerdem schreibt Yaghoobifarah frei für deutschsprachige Medien wie SPEXan.schläge und die taz. Yaghoobifarah ist nicht-binär, identifiziert sich also weder als männlich noch als weiblich. Im September 2024 ist Yaghoobifarah in Bremen und liest in der Reihe queer.lit! aus dem zweiten Roman Schwindel, der dann gerade frisch erschienen ist.

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