Satzwende: Paula Schweers (2/2)

Notizzettel mit Aufschirft Hochbegabt
© Rike Oehlerking

Fragmente der Verbundenheit - Ganzheit

Scham: Ein vertrautes Gefühl für Menschen mit Hochbegabung, insbesondere für Frauen. So lese ich es in einem Zeitungsartikel. Da bin ich gerade Anfang dreißig und habe noch nie tiefergehend darüber nachgedacht, was diese Zahl, die ich mit 16 fett unterstrichen auf einem Diagnosebogen gesehen habe, mit diesem immer wiederkehrenden Gefühl zu tun haben könnte.

 


Hochbegabung sei kein Grund zum Grübeln, nichts Dramatisches und letztlich nicht viel mehr als ein Potenzial, das man nutzen könne, oder auch nicht. Das sagt die Testpsychologin lapidar, als ich ihr nervös gegenübersitze, weil von dem Ergebnis meine weitere Schullaufbahn abhängt. Wahrscheinlich versucht sie mir den Druck zu nehmen, künftig besonders viel zu leisten. Schließlich habe ich zu diesem Zeitpunkt in der Schule einiges verpasst und entsprechend schlechte Noten. Doch leider nährt dieser Versuch meine Selbstzweifel weiter und schlägt zudem in die Kerbe, dass es nicht in mein Wertesystem passt, Menschen nach Intelligenz einzuordnen.

Ich behandle diesen Teil von mir fortan auch selbst lapidar. Ohne es wirklich zu reflektieren, versuche ich, mich anzupassen. In meine Sprache mehr „Irgendwies“ und „Odersos“ einzubauen, als nötig, damit ich unsicherer wirke, als ich es wirklich bin und niemanden zu kränken oder ausgeschlossen zu werden. Ich versuche, die große Energie, den inneren Antrieb, nicht zu offen zu zeigen, der bei mir sofort anspringt, sobald es etwas Neues auszuprobieren gibt und mit dem ich andere regelmäßig nerve. Ignoriere meine Langeweile bei Routineaufgaben und versuche, die Fehler zu verbergen, die ich dabei regelmäßig mache. Halte den Mund, wenn mir in Arbeitsprozessen mal wieder alles zu lange dauert und verzweifle zugleich an den vielen Wissenslücken, die ich durch die verträumten Schuljahre angesammelt habe.


Dass unliebsame Anteile des eigenen Selbst sich ebenso wenig wegdrücken lassen, wie unangenehme Gefühle, wird mir erst Jahre später klar, als ich das Abi und die ersten Jobs hinter mich gebracht habe. Langsam fange ich an sie zuzulassen.

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Paula Schweers
© Rike Oehlerking

Paula Schweers

wurde 1992 in Bremen geboren und studierte Literarisches Schreiben am Literaturinstitut in Leipzig und Europäische Kulturgeschichte in Frankfurt (Oder). Sie arbeitet beim ARTE Magazin und schreibt u. a. für ZEIT Online und das ZEIT Wissen Magazin, erhielt zahlreiche Stipendien und war Finalistin des Literaturwettbewerbs Open Mike. Paula Schweers lebt in Schwielowsee. Für die Reihe SATZWENDE ist Paula Schweers im Januar 2024 zu Gast in Bremen.

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