Ein Kind sitzt auf einer Mauer, ein Gänseblümchen in der Hand. Einzeln zupft es die weißen Blumenblätter heraus.
„Ich liebe mich, ich liebe mich nicht. Ich liebe mich, ich liebe mich nicht ...“
So sehe ich mich. Nicht weil es so in meiner Kindheit passiert ist, sondern weil es gerade so damals nicht hätte passieren können. Als Kind wäre mir nämlich nie in den Sinn gekommen, dass Liebe etwas ist, das ich mir selbst geben darf oder kann. Liebe, so hatte ich es gelernt, war etwas, das von außen kam, wie die Goldsterne, die mir meine Grundschullehrerin auf meine Hausaufgaben klebte. Liebe, glaubte ich mit überraschend frühreifer Marktwirtschaftslogik, muss man sich verdienen: Wer schön, erfolgreich oder gehorsam genug war, war der Liebe würdig. Falls nicht, müsste Liebe – zusammen mit ihrer Verwandten, dem guten Selbstwertgefühl – entzogen werden.
Ich war als Kind zwar Klassenbester (ein Plus), war aber auch leicht übergewichtig (großes Minus) und verprügelte regelmäßig meine Klassenkameraden, was meiner Lehrerin gar nicht gefiel (eher ein Minus)1.
Im Durchschnitt fühlte ich mich somit mittel bis unterdurchschnittlich geliebt bzw. beliebt.
Später, als ich aufs Gymnasium kam, spitzte sich alles zu. Ich begann mich nach Mahlzeiten zu übergeben, weil ich schlank sein wollte wie die männlichen Models, die ich in der GQ sah und die der Liebe zweifellos würdig waren (wenn nicht sie, wer dann?). Und ich versuchte mit allen Mitteln, mich in meine Klassenkameradin Magda zu verlieben, die mit mir gehen wollte, und mein Schwärmen für John einzustellen. Denn wer wurde schon fürs Schwulsein geliebt? Als ‚Schwuli’ (so hieß es damals, war nett gemeint) war man im besten Fall die Punchline aller Witze, im schlechtesten Fall würde man von der Polizei verhaftet wie George Michael oder bekäme AIDS wie Freddy Mercury. Also auf keinen Fall schwul, bitte – Scham hatte ich ja schon genug.
Ich dachte eine Zeit lang, alles wäre besser, wenn ich dahin ziehe, wo mich keiner kennt. Ich ging zum Studieren nach England, dann nach Frankreich, aber irgendwie hatte ich immer im Hinterkopf, dass ich eines Tages dem allen ein Ende setzen müsste. Auch mein Coming-out half nur bedingt – ich fühlte mich weiterhin verloren, alleine in mir selbst. Erst als ich als überbezahlter und überarbeiteter Junior-Anwalt in London irgendwann einfach nicht mehr aus dem Bett steigen konnte, suchte ich psychologische Hilfe auf. Der Prozess der Genesung war lang und dauert bis heute an, aber im Zentrum stehen dabei diese beiden Fragen:
Was möchte ich wirklich? Was tut mir wirklich gut?
Diese Fragen zu stellen – und der ehrliche Versuch, sie zu beantworten –, ist radikal in einem System, in dem wir es allen um uns herum recht machen sollen. Aber genau das fing ich an zu tun, dank Therapie, dank Meditation, dank Yoga. Wie alle wichtigen Veränderungen war auch diese nicht geradlinig. Es gab immer wieder Rückschläge, Ängste, Hinterfragungen. Sehr wenigen Menschen und Institutionen liegt es daran, dass wir plötzlich Grenzen setzen oder uns abwenden. Aber ohne Selbstkenntnis kann es keine Selbstliebe geben, und ohne „Nein“ zu sagen, können wir nie wirklich „Ja“ sagen – auch wenn es anderen nicht gefällt (oder gerade dann). Langsam ging es voran. Ich kündigte meinen Bürojob, beendete toxische Freundschaften und gestand mir endlich ein, dass ich schon immer schreiben wollte (mein zweites Coming-out). Es glich einer Revolution, die Macht, die außen zu liegen schien, an mich zu reißen. Mir endlich selbst zuzuhören, mit Mitgefühl. Es zu wagen, zur Mauer zu gehen, wo das Kind noch immer sitzt. Zu sehen, wie es aufschaut, mich erkennt, erleichtert das Gänseblümchen beiseitelegt. Es in den Arm zu nehmen. Zu sagen:
„Ich liebe dich.“
Und zu hören wie es antwortet.
„Ich liebe mich, ich liebe mich, ich liebe mich.“
1 Aber nur in der Grundschule, bevor ich im Gymnasium selbst fertiggemacht wurde. Karma.
Tomasz Jedrowski
als Kind polnischer Eltern in Bremen aufgewachsen, studierte Jura in Cambridge und an der Université de Paris. Nach Jahren in Großbritannien und Polen lebt er nun in Paris. Sein Debütroman Im Wasser sind wir schwerelos (Hoffmann und Campe 2021) wurde bereits in Großbritannien von der Kritik gefeiert und vom Guardian zum Buch des Jahres ernannt. Jedrowski findet darin eine ganz eigene, intensive Bildsprache für Körperlichkeit und Sexualität.
Im Rahmen der Lesereihe Satzwende war Tomasz Jedrowski Anfang März in Bremen zu Gast. Außerdem betreut er den Schulhausroman im Schuljahr 2021/22 an der Oberschule in den Sandwehen.
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