Satzwende: Daniel Schreiber (1/2)

Venedig spiegelt sich in einer Pfütze
© Rike Oehlerking

Im Abspann eines Films

Einige Tage, knapp zwei Wochen sind es, die ich in Venedig verbringe, im Centro Tedesci die Studi Veneziani. Das deutsche Studienzentrum befindet sich im Palazzo Barbarigo, einem der großen historischen Bauten am Canal Grande. Die Hauptfassade des Palazzo liegt nicht am Canal Grande, sondern am kleineren Rio di San Polo, was ungewöhnlich für einen Prachtbau des venezianischen 16. Jahrhunderts ist. Es ist so, als würde man sich ein kleines Schloss an der Fifth Avenue, den Champs-Élysées oder Unter den Linden bauen, den Haupteingang aber an eine Seitenstraße legen. Mein Gästezimmer liegt genau neben dem Haupteingang und seiner Anlegestelle, an der die Boote festmachen. Nach dem Aufstehen gehe ich durch die Eingangshalle, dem Portego, an einem kleinen Brunnen vorbei, der früher für die Versorgung mit Trinkwasser nötig war, heute aber nicht mehr in Betrieb ist, und schlage den Weg zur Treppe ein, die zum Zwischengeschoss des Hauses führt.

An den ersten Tagen wirkte der Portego noch verwunschen auf mich, wie die Kulisse eines historischen Films. Inzwischen ist sein Anblick alltäglich geworden. Ein paar Monate später wird mir die Bibliotheksleiterin des Studienzentrums Fotos vom letzten Hochwasser zeigen, die mich an Bilder aus einem Science-Fiction-Film erinnern. Die Empfangshalle gleicht darauf einem verlassenen kleinen See, umgeben von hohen, historischen Mauern. Ich werde sie nicht mit dem vertraut gewordenen Anblick in Verbindung bringen können. Womöglich der cineastischen Qualitäten des Ortes wegen muss ich an Sheila Heti und ihren seltsam ergreifenden Roman Reine Farbe denken, dessen Lektüre mich ein paar Wochen zuvor gefangen hielt. Die um ihren Vater trauernde Erzählerin verwandelt sich darin eine Zeit lang in ein Blatt an einem großen Baum und beobachtet von dort aus die Welt. Eine Welt, die ihr Schöpfer bald zerstören wird, weil er sich eingestehen muss, dass ihm dieser Entwurf nicht gelungen ist und er noch einmal ganz von vorne anfangen muss. „Da sind wir nun“, sagt die Erzählerin, „leben im Abspann am Ende des Films.“

Der Satz hallte lange in mir nach. Ich frage mich, wie viele von uns etwas Ähnliches empfinden und ob dieses vielerorts spürbare kollektive Gefühl nicht etwas ist, das jede Generation irgendwann einholt. Ob nicht jede Generation irgendwann der Illusion unterliegt, am Ende der Geschichte zu leben. Ob dieses Lebensgefühl nicht etwas ist, das Kulturen zyklisch erfahren, das alle paar Jahrzehnte im Zuge tiefgreifender Veränderungen über uns kommt, die uns der Gewissheit unserer Zukunftsvorstellungen berauben. Hetis Erzählerin erwägt, ob wir nicht sogar auch ein wenig Glück haben, dazu auserwählt worden zu sein, mit diesem schrecklichen Endzeitgefühl zu leben. Der Nähe zu den Toten wegen. Sie kann nachvollziehen, dass in den meisten apokalyptischen Erzählungen die Toten wiederauferstehen. Am Ende der Welt, wie wir sie kennen, vermissen wir sie mehr denn je. Wir brauchen ihre Gesellschaft. Möchten, dass sie uns dabei helfen, durch diese Zeit zu kommen. Glauben, dass auch sie das Recht haben, dabei zu sein, wenn sich der letzte Vorhang schließt.


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Porträt von Daniel Schreiber
© Florian Hetz

Daniel Schreiber

wurde 1977 geboren. Er ist Schriftsteller, Übersetzer und Kolumnist bei WELTKUNST und ZEIT am Wochenende. Mit seinen hochgelobten und vielgelesenen Büchern Nüchtern (2014) und Zuhause (2017) hat er eine neue Form des literarischen Essays geprägt. Sein Buch Allein (2021) stand monatelang auf der SPIEGEL-Bestseller- und Sachbuch-Bestenliste und war auch international ein großer Erfolg. Zuletzt erschien der Band Die Zeit der Verluste. Er lebt in Berlin.

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