Satzwende: Daniel Schreiber (2/2)

Die Fassade eines Palazzo in Venedig wird nachts hell angestrahlt.
© Rike Oehlerking

Leben im Anthropozän

Die Nachmittage während meines Aufenthalts im Centro Tedesco verbringe ich meistens in der Bibliothek. Ihre Räume liegen im Piano Nobile. Um zu ihnen zu gelangen, muss man eine prachtvolle Sala durchqueren, einen Cinquecento-Festsaal mit hohen Vierarkadenfenstern und goldverzierter Balkendecke. Hinter einer schweren Tür aus Eichenholz, die mit Marmor umrahmt ist, verbergen sich die Leseräume mit ihren bis an die Decke reichenden Bücherregalen. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts hingen hier wertvolle Bilder, unter anderem Tizians Heiliger Sebastian und seine Toilette der Venus sowie einige Gemälde aus seiner Werkstatt. Heute gehören sie allesamt zur Sammlung der Eremitage in St. Petersburg. 


Eigentlich fällt mir das Arbeiten gerade nicht leicht. Doch an diesem Tag habe ich mir mehr Notizen gemacht als gedacht. Als ich aufblicke, ist es dunkel draußen. Mein Blick schweift über die hohen Bücherregale mit ihren dicken Bänden in verschiedenen Sprachen, über den kleinen Kronleuchter, bleibt an den großen Fenstern, der Terrasse hinter ihnen und dem Himmel darüber hängen. Der Sonnenuntergang ist schon länger vorbei.

Wenn man wollte, könnte man die Fenster aufmachen und direkt nach draußen klettern. Die taube Ruhelosigkeit, die mich den ganzen Tag begleitet hat, ist etwas abgeebbt. Ich klappe den Laptop zu. Gleich werde ich Lucy zum Essen treffen. Ich trete ans Fenster und schaue auf die Terrasse und in den dunklen Winterhimmel, dessen helle Wolken das Licht der Stadt und ihrer angestrahlten historischen Fassaden reflektieren.


Es wird mir erst einige Monate später gelingen, meiner Sprachlosigkeit besser zu begegnen. Erst später, wenn die Tage in Venedig in den Hintergrund gerückt sind, während eines Sommers, den ich fast gänzlich zuhause in meiner Wohnung in Berlin verbringen werde. Erst später, wenn meine Terrasse unter einem dichten grünen Blätterdach versinkt und ihr schon viele Jahre alter japanischer Yuzu-Baum zum ersten Mal blüht und grüne Früchte trägt. Erst später, wenn ich gelegentlich Freundinnen und Freunde sehe, wenn ich mir Ausstellungen anschaue oder mit jemandem etwas essen gehe, wenn ich morgens einige der Romane von Natalia Ginzburg lese, die ich noch nicht kenne, wenn ich mit meinem Patenkind ins Kino gehe und Super-Hero-Filme sehe, wenn ich mit der Tochter der befreundeten Nachbarsfamilie den kleinen Tierpark in unserer Nähe besuche, mir geduldig Ziegen, Lamas, Ponys, Hühner, Enten und vor allem Häschen mit ihr anschaue und staunend beobachte, wie schnell sie sprechen lernt. 

Später, wenn ich meine Mutter besuche, wir stundenlang in ihrem wunderschönen Garten sitzen und über meinen Vater reden und sie mich anschließend mit so viel Obst und Gemüse wieder nach Hause schickt, dass ich mich einige Tage lang fast gänzlich davon ernähre. Später, wenn jeden Monat die heißesten Temperaturen gemessen werden, die jemals aufgezeichnet wurden, wenn die Wälder brennen, einige Regionen der Welt unter katastrophalen Überschwemmungen leiden und andere unter nie dagewesenen Dürreperioden. Später, wenn die Menge des Meereises in der Antarktis so gering ist, wie es, mathematisch gesehen, nur alle 30 Millionen Jahre vorkommen sollte. Wenn auch die Geologie aufgrund von Gesteinsablagerungen offiziell das Zeitalter des Anthropozäns ausruft, das bis dahin nur als geisteswissenschaftliche Idee existiert hat. Erst später, wenn ich trotz allem froh sein werde, gerade hier und am Leben zu sein.  


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Porträt von Daniel Schreiber
© Rike Oehlerking

Daniel Schreiber

wurde 1977 geboren. Er ist Schriftsteller, Übersetzer und Kolumnist bei WELTKUNST und ZEIT am Wochenende. Mit seinen hochgelobten und vielgelesenen Büchern Nüchtern (2014) und Zuhause (2017) hat er eine neue Form des literarischen Essays geprägt. Sein Buch Allein (2021) stand monatelang auf der SPIEGEL-Bestseller- und Sachbuch-Bestenliste und war auch international ein großer Erfolg. Zuletzt erschien der Band Die Zeit der Verluste. Er lebt in Berlin und war im Mai in unserer Lesereihe Satzwende zu Gast.

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