Satzwende: Heinz Helle (1/2)

Gitarre
© Rike Oehlerking

The Party is over

Für das neue Jahr habe ich mir ein paar Dinge vorgenommen: Weniger Geschenke kaufen; weniger Essen und trinken an Tankstellen kaufen; mehr Sport; mehr Geld verdienen; mehr Geld sparen; mal wieder was richtig Geiles schreiben.

Neulich fiel mir ein, wie ich im letzten Herbst mit meinen Töchtern zu einer Outlet-Mall ungefähr 50 Kilometer außerhalb von Rom fuhr. Ich wollte Kopfhörer kaufen, die in mein neues Handy passen (die Alten passen nicht mehr), damit ich länger joggen gehe, weil ich etwas Interessantes anhören kann beim Joggen, und das Joggen so hoffentlich weniger langweilig ist, weil ich gern länger laufen will, damit ich länger lebe, und länger mit meinen Töchtern rumhängen kann, und als wir aus dem Geschäft rauskamen, waren da ein Plastikpferd und ein Piratenschiff auf einer beweglichen Hydraulikvorrichtung und weil sie beide da hin wollten, gingen wir hin. Später saß die Große auf dem Pferd und die Kleine saß im Piratenschiff, und ich warf erst je einen Euro ein in die beiden Metallboxen an den Hydraulikvorrichtungen und filmte dann meine Töchter, wie sie vor und zurück schaukelten und mich dabei ansahen mit diesem wunderbar ehrlichen Ausdruck tiefster, kindlicher Langeweile, weil die Große für all das eigentlich schon etwas zu groß war (9) und die Kleine (2) gar keine Ahnung hatte, was ein Piratenschiff ist.


Auf der Rückfahrt hörten wir ein Schweizer Kinderlied, das Wunder der Natur heißt, und in dem ein Kinderchor ein Du besingt, dass gut auf den Planeten aufpassen soll, weil es nur einen gibt, und meine Töchter sangen mit, und als es hieß easy mit den Pandas chillen und Bambus kauen, weinte ich plötzlich los.

Wir fuhren gerade an einer Stelle der Straße vorbei, an der ich neulich schon einmal weinen musste im Auto, als wir eine Freundin zum Bahnhof brachten, sie hatte uns hier in Italien besucht, und dann stellte sie The Party is over an von dieser tollen, berühmten Sängerin, und ich sah, was ich jetzt auch sah, am Straßenrand in der Kurve, genau vor dem großen Baum: eine kleine weiße Gitarre an einem hölzernen Kreuz.


Heinz Helle liest
© Rike Oehlerking

Heinz Helle

wurde 1978 geboren. Er studierte Philosophie, arbeitete als Texter in Werbeagenturen und ist Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts. Heinz Helle lebt mit Frau und Kindern in Zürich. Sein Romandebüt Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin (Suhrkamp 2014) stand auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Für Die Überwindung der Schwerkraft (Suhrkamp 2018) erhielt Helle den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2019. Im Schuljahr 2019/20 betreute Heinz Helle in Bremen den Schulhausroman an der Oberschule Lesum. Zuletzt erschien sein Roman Wellen (Suhrkamp 2022).

Zum Autorenprofil von Heinz Helle

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