Satzwende: Heinz Helle (2/2)

Apfel und Brot
© Rike Oehlerking

New Future

Auf dem Rückweg vom Bahnhof fragte ich mich, wie es sein konnte, dass ich manchmal so wütend war, obwohl ich doch so oft so glücklich war, so zufrieden und dankbar. Ich glaubte damals, ich hätte eine seltene psychische Krankheit, bei der leichter Unterzucker direkt zu einer sprachlichen, emotionalen, sozialen Autoaggressivität führte. Ich fühlte mich dann leer und verwundet und gab denen um mich die Schuld daran, und wenn ich sie liebte, dann fühlte ich mich auch noch verraten oder zumindest verlassen und dann wusste ich nicht mehr ein noch aus.

Und dann aß ich einen Apfel. Und ich verzieh ihnen. Und dann aß ich ein Brot. Und ich wusste plötzlich, dass es überhaupt nichts zu verzeihen gab, dass man mich liebte und zu mir hielt und für mich da war, wenn ich das brauchte. War es möglich, dass mein dramatisches Seelenleben wirklich nur eine Folge meiner physiologischen Überempfindlichkeit war? Wahrscheinlich schon. Und was folgte daraus?

Zweierlei, meine ich heute:

Erstens: immer genug gegessen haben oder genug zu essen dabei haben oder zur Not schnell etwas kaufen (wenn es sein muss, auch an einer Tankstelle).

Zweitens: genau hinschauen, was um mich ist und so viel davon lieben wie möglich.


Das Tankstellencafé.

Die Bodenreinigungsmaschine.

Den Menschen, der sie bedient.

Das vamos a la playa, das aus den Boxen kommt.

Das Fruchtfleisch des frisch gepressten Orangensafts.

Den Lärm der Menschen in der Schlange.

Den neuen Handyhalter fürs Auto, den ich gekauft habe, damit das Handy nicht immer in den Fußraum fällt, wenn ich abbiege.

Der 50-Euro-Schein im Handschuhfach.

Dass eine Freundin ihn mir gegeben hat für Benzin.

Dass ich ihn gleich der Babysitterin geben werde, weil sie mit meiner kleinen Tochter spielt.

Die Schokoladeneisflecken auf dem gelben Kappa Trikot meiner großen Tochter.

Dass die aufgekratzten Mückenstiche an meinem Schienbein heilen.

Dass meine Frau es mag, wenn ich sie massiere.

Dass der braun gebrannte Mann, der gerade reinkommt, die gleiche kurze Jeans trägt wie ich.

Dass er sie wahrscheinlich auch aus der Outletmall hier ganz in der Nähe hat.

Dass auf seinem T-Shirt ein silberner Tiger mit Pailletten ist.

Dass darunter steht: New Future.


Heinz Helle liest
© Rike Oehlerking

Heinz Helle

wurde 1978 geboren. Er studierte Philosophie, arbeitete als Texter in Werbeagenturen und ist Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts. Heinz Helle lebt mit Frau und Kindern in Zürich. Sein Romandebüt Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin (Suhrkamp 2014) stand auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Für Die Überwindung der Schwerkraft (Suhrkamp 2018) erhielt Helle den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2019. Im Schuljahr 2019/20 betreute Heinz Helle in Bremen den Schulhausroman an der Oberschule Lesum. Zuletzt erschien sein Roman Wellen (Suhrkamp 2022).

Zum Autorenprofil von Heinz Helle

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