Blume auf Comicheften
© Rike Oehlerking

Die aus der Gosse kommen

Comics in Deutschland

Von Peer Meter

In Deutschland ist ‚Unterhaltung‘ ein sehr gefährliches Wort.

Marcel Reich-Ranicki

Da kann man sich ja nur noch an den Kopf greifen.

Heinz Erhardt

In Deutschland ist ‚Unterhaltung‘ ein sehr gefährliches Wort. Obgleich sie immer wieder kostbarste Perlen hervorbringt, wird sie hierzulande gerne wie eine unanständige Krankheit behandelt, naserümpfend als Schmutz und Schund gebrandmarkt und in die Kloaken verbannt. Und bitte Distanz wahren, wir wünschen nicht, besudelt zu werden.

So beklagt Egon Friedell sich in seiner auch heute noch höchst lesenswerten Kulturgeschichte der Neuzeit über den Umgang mit Wilhelm Busch, dass sein „Oeuvre jahrzehntelang als ein harmloses Kasperletheater gegolten hat, gut genug für die Kinderstube und den Nachmittagskaffee.“ Es brauchte beinahe ein ganzes Jahrhundert, ehe es den Deutschen dämmerte, dass ihr „Kasperledichter“ Wilhelm Busch bereits in den 1860er Jahren nicht nur in der Bildergeschichte völlig neue Wege einschlug, sondern auch Elemente des Zeichentrickfilms auf geradezu geniale Weise vorweg genommen hatte.

Doch blieb es im Ansatz stecken. Womit wir einmal mehr auch hier den Germanisten Hugo Kuhn bestätigt sehen, der über die deutsche Literatur von Vorwegnahmen spricht, von isolierten Ansätzen und Verspätungen. Und genau dieses: die Vorwegnahme, der isolierte Ansatz und die Verspätung treffen im besonderen Maße auf die Entwicklungsgeschichte deutscher Comics zu.


Während hierzulande die genialen Einfälle eines Wilhelm Busch als billige Unterhaltung abgetan wurden, niemand auf die Idee kam, sie aufzunehmen und weiter zu entwickeln, begannen sich in den USA zum Ende des 19. Jahrhunderts in den Sonntagszeitungen Comic-Strips zu etablieren, die Buschs Werk zum Vorbild hatten. So wurde in Amerika der Grundstein gelegt für eine Comic-Kultur, die ohne das Wirken von Wilhelm Busch kaum denkbar gewesen wäre. Binnen weniger Jahre verbreiteten sich Comic-Strips über die gesamte USA und brachten in den folgenden Jahrzehnten einen großartigen Klassiker nach dem anderen hervor.

Hiervon inspiriert setzte Ende der 1920er Jahre auch in Frankreich und Belgien eine zunächst noch kleine Comic-Blüte ein, die sich allerdings rasch entwickelte und niemals verwelken sollte. Völlig neue Stil- und Erzählelemente wurden durch jene Künstler in den Comic eingebracht und so Klassiker geschaffen, die heute als frankobelgischer Comic zur ganz großen Comic-Kunst zählen. In beiden Ländern besaß der Comic auch von Beginn an einen hohen kulturellen Stellenwert, nennt sich bis heute Bande dessinée (gezeichnete Streifen) und ist wie selbstverständlich als eigenständige Kunstform anerkannt.


An Deutschland aber zogen diese Entwicklungen spurlos vorüber. Hierzulande kam weder ein Verleger auf die Idee, solche Comics, die mittlerweile in Heft- und Albenform hohe Auflagen erreichten, als Lizenz einzukaufen, noch gar eigenständig Comics produzieren zu lassen. Obgleich zumindest bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten an hervorragenden Zeichner*innen und Illustrator*innen wahrlich kein Mangel geherrscht hatte.

Erst als nach dem Zweiten Weltkrieg mit den amerikanischen Soldaten Comic-Hefte nach Deutschland kamen, wurden Comics auch hierzulande wahrgenommen und es setzte ab den frühen 1950er Jahren ein regelrechter Boom ein. Leider waren es oftmals die vornehmlich aus Italien stammenden auf die Schnelle hingeschnodderten Sachen, womit die deutschen Verlage den Markt überschwemmten. Und so hatten die Kritikaster und Beckmesser, in Deutschland wie gewöhnlich rasch zur Stelle, leichtes Spiel, Comics als primitiv und verdummend zu stigmatisieren; was mit solcher Vehemenz geschah, dass der Ruf der Comics sich auf Jahrzehnte nicht davon erholen sollte.

Eine handvoll deutscher Zeichner, allen voran der Verleger Rolf Kauka mit seinem Fix und Foxi-Imperium und der Zeichner und Autor Hansrudi Wäscher mit Serien wie Sigurd, Tibor oder Nick, versuchte dann ab den 1950er Jahren so etwas wie eine deutsche Comic-Produktion zu begründen. Auch entdeckten einige Wochenzeitschriften die Comics und entwickelten qualitativ erstaunlich hochstehende deutsche Comic-Serien wie Mecki in der Hör Zu, Nick Knatterton in der Quick oder Jimmy, das Gummipferd im Stern, die äußerst populär waren und teilweise sogar verfilmt wurden. Aber all diese Produktionen blieben letztendlich isolierte Ansätze. An eine eigenständige Comic-Kultur, wie sie sich in den USA und Frankreich/Belgien, aber auch in Ländern wie Spanien, England oder Italien längst etabliert hatte, war in Deutschland nicht zu denken.

Blume auf Comicheften
© Rike Oehlerking

Und so verschwanden jene Unternehmungen in den 1970er Jahren nach und nach wieder von der Bildfläche und Deutschland fiel zurück in seinen Comic-Dornröschenschlaf, während zur selben Zeit in den USA und Frankreich eine junge Generation von Comic-Künstlern nicht nur großartige neue Bilderwelten erschuf, sondern auch erzählerisch völlig neue Wege beschritt. Der Begriff ‚Graphic Novel‘ war geboren: der Comic-Roman, der sich literarischen Themen für erwachsene Leser*innen widmet. Diese bahnbrechenden Entwicklungen geschahen, während in Deutschland Comics immer noch als primitiv und verdummend galten, das Feuilleton in ihnen nichts weiter sah als billige Unterhaltung, sich hartnäckig weigerte, einen literarischen Anspruch auch nur zur Kenntnis zu nehmen.

So sollte es noch zehn lange Jahre dauern, ehe bei uns eine ernstzunehmende Comic-Künstlergeneration die Bühne betrat. Beflügelt durch den Erfolg der anarchischen Comics von Rötger Feldmann (Werner), Ralf König (Der bewegte Mann) oder Walter Moers (Kleines Arschloch), begannen Mitte der 1980 Jahre deutsche Zeichner Graphic Novels zu entwickeln, zu jener Zeit hierzulande schlicht „Comics für Erwachsene“ genannt. Es waren Künstler wie Matthias Schultheiß, Chris Scheuer oder Christian Gorny, um nur einige zu nennen, denen eine zarte Blüte gelang, die auch international Beachtung fand. Leider wurden die meisten jener verheißungsvoll gestarteten Projekte nicht zu Ende geführt und verschwanden nach nur ein paar Jahren sang und klanglos wieder in der Versenkung. So blieb auch diese kleine Blüte nichts weiter als ein isolierter Ansatz und die Hoffnung auf eine deutsche Comic-Kultur rückte in immer weitere Ferne.


Hinzu kam, dass Mitte der 1990er Jahre ein längst untergegangen geglaubtes Gespenst wieder zurück an die Oberfläche blubberte und so kräftig durch die deutsche Comic-Szene spukte, dass den paar Comic-Verlagen, die es in Deutschland gab und die eher ein bescheidenes Nischendasein führten, angst und bange wurde.

Ein Oberstaatsanwalt im thüringischen Meinigen („ein Wessi-Import“, wie der Spiegel damals schrieb), hatte zu einer beispiellosen Comic-Hatz geblasen. Völlig zu Unrecht ließ er die Geschäftsräume des Alpha-Comic-Verlages durchsuchen. Ein Verlag, der sich bis dato im hohen Maße um die französischen Comics in Deutschland verdient gemacht hatte und dessen Programm vornehmlich aus Graphic Novels bestand. Der Vorwurf: „Verdacht auf Verbreitung gewaltverherrlichender, pornographischer und den Nationalsozialismus verherrlichender Schriften“. In einer Folgeaktion bekamen auch weit über eintausend Buchhandlungen in ganz Deutschland Besuch von der Polizei.

Das Ergebnis war schockierend: Es wurden nicht nur im großen Stil Titel des Alpha-Comic-Verlages beschlagnahmt, sondern auch die anderer Verlage, wie Walter Moers Kleines Arschloch oder der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Holocaust-Comic Maus. Die Geschichte eines Überlebenden von Art Spiegelman. Das anschließende Gerichtsverfahren führte zur lächerlichen Beanstandung einer einzigen (sic!) Comic-Seite. Der wirtschaftliche Schaden aber war für den Alpha-Comic-Verlag so gewaltig, dass der Verlag Konkurs anmelden musste. Und die aufgeschreckten Buchhandlungen, mühsam für den Comic gewonnen, verbannten eiligst sämtliche Titel aus den Regalen.

In den darauffolgenden Jahren herrschte in Deutschland eine deprimierende Comic-Flaute. Verlage wie Carlsen überlegten gar, das gesamte Comic-Programm aufzugeben. Unter solchen Umständen wäre eine Produktion deutscher Titel ein von Anfang an zum Scheitern verurteiltes Unternehmen gewesen.


Doch mit dem neuen Jahrtausend setzte eine nicht mehr für möglich gehaltene Wende ein. War der Comic bis dahin eher auf eine männliche Käuferschicht ausgerichtet, so mischte mit dem Erscheinen japanischer Comics in Deutschland, den sogenannten Mangas, eine junge, weibliche Leserschaft in großer Zahl die Szene auf und bildete eine völlig neue Fan- und Käufer*innengemeinde. Parallel dazu entdeckten Universitäten, allen voran Hamburg, Berlin und Kassel, den Comic als künstlerische Ausdrucksmöglichkeit. Eine neue Generation junger Comic-Künstler*innen, darunter erstmals auch viele Frauen, stieg wie der Phönix aus der Asche und verhalf dem deutschen Comic binnen weniger Jahre zu einer großartigen, auch international hochgeachteten Blüte. Regelmäßig schaffen es deutsche Titel nicht nur auf die Nominierungslisten der wichtigsten Comic-Preise in Frankreich und den USA, sondern konnten auch einige jener Preise gewinnen. Eine solche Blüte wäre noch wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen oder hätte ins Reich der Tagträume gehört.

Im Gefolge dieser Entwicklung setzte sich auch hierzulande der Begriff „Graphic Novel“ durch und befreite den Comic aus seiner Schmuddelecke. Das Feuilleton entdeckte, dass ein Comic viel mehr sein kann als billige Unterhaltung und begann die Neuerscheinungen zu rezensieren. So fanden Comics unter dem Begriff „Graphic Novel“ endlich Einzug in den Literaturbetrieb und wurden als eine seiner zahlreichen Facetten akzeptiert.

Und so ist der deutsche Comic, das alte Punkmädchen, nach einer genialen Vorwegnahme und nach Jahrzehnten der isolierten Ansätze doch noch angekommen. Mit einer ungeheuren Verspätung zwar, aber dafür gedenkt er, wie es aussieht, zu bleiben.

Porträt von Peer Meter
© Siegfried Scholz

Peer Meter

wurde 1956 in Bremen geboren und lebt und arbeitet als freier Schriftsteller - nach dreißig Jahren Worpswede - seit 2021 wieder in Bremen. Neben seiner Arbeit als Comicszenarist ist er Theater-, Drehbuch-, Belletristik- und Sachbuchautor. Von 1987 bis 1989 war er Redakteur und Mitherausgeber der Bremer Literaturzeitschrift Stint. Seit 1988 entstanden erste Comicszenarios, die der Illustrator Christian Gorny umsetzte. Diese Arbeiten wurden in diversen Comicmagazinen und Zeitschriften veröffentlicht. Seit 2010 erschienen in Zusammenarbeit mit deutschen Comiczeichner*innen Graphic Novels: Gift mit Barbara Yelin, Haarmann mit Isabel Kreitz, Vasmers Bruder mit David von Bassewitz, Böse Geister mit Gerda Raidt und Beethoven – Unsterbliches Genie mit Rem Broo.

Zum Autorenprofil von Peer Meter

Weiterlesen:

Threads: Geschichten über unsere zweite Haut

In Bremen haben wir eine Baumwollbörse - mit dem, was Stoffe zu erzählen haben, kennen wir uns also aus. In der City of Literature Manchester erzählen literarische Texte und eine Ausstellung gerade von Textilien und ihren Geschichten.

Satzwende: Stephan Lohse

Die Satzwende von Stephan Lohse zum Thema Haut erinnert an den Anschlag auf die Synagoge der Jüdischen Gemeinde zu Halle. Ein Text, der unter die Haut geht. Über ihn spricht Lohse auch bei seiner Lesung in Bremen in der Reihe Satzwende.