Hund mit Kuscheltier
© Rike Oehlerking

Der niedlichste Hund der Welt

Von Anna Lott

Joe Boy war der niedlichste Hund auf der ganzen Welt. Er war der schwarz-weißeste Hund auf der ganzen Welt. Er war der Hund mit dem weichsten und flauschigsten Fell auf der ganzen Welt. Und er war ganz sicher der Hund mit den süßesten Bärenöhrchen auf der ganzen Welt. Und auch du hättest ihn dir sicherlich sofort gewünscht, wenn du ihn in einem Buch, in einer Zeitschrift oder im Internet gesehen hättest, da bin ich mir ganz sicher.

Doch schon nach dem ersten Kennenlernen hättest du gewusst, dass Joe Boy ein schrecklicher Hund war. In Nullkommanix konnte er nämlich

  • furchterregend knurren
  • noch furchterregender die Zähne fletschen
  • röhrende Rülpser machen, die unfassbar müffelten
  • pullerige Pupser machen, die noch tausendmal schlimmer müffelten
  • Kackhäufchen machen.

Und wenn er es mit diesem schlechten Benehmen noch immer nicht geschafft hatte, selbst das mutigste Kind in die Flucht zu treiben, dann sabberte er und verdrehte die Augen. So sah er dann aus wie ein irrer Untoter, der soeben aus dem Grab emporgestiegen war, um nur eins zu tun: Kinder zu fressen. Spätestens nach dieser Zombie-Nummer hättest du kapiert, dass Joe Boy kein sonderlich angenehmer Zeitgenosse war. Niemals hättest du zugegeben, dass du dir Joe Boy noch vor wenigen Sekunden aus vollstem Herzen gewünscht hast. Dass du für ihn sogar alle deine Spielsachen verkauft hättest und sogar mit dem Gedanken spieltest, deine Schwester oder deinen Bruder gegen ihn einzutauschen. Wie warst du bloß auf die Idee gekommen, dass du dir einen Hund als Haustier wünschst?

Vor allem aber hättest du ganz und gar vergessen, dass du noch vor wenigen Tagen deinen genervten Eltern mit ernster Miene erklärt hast, dass Kuscheltiere Babykram sind. Denn plötzlich wolltest du nur noch eins: Ein Kuscheltier. Denn Kuscheltiere

  • sind immer lieb

  • sind immer ungefährlich

  • rülpsen nicht

  • pupsen nicht

  • kackern nicht

  • und machen vor allem immer das, was du dir wünschst.

Dass Joe Boy nicht so war wie ein Kuscheltier, hatte einen guten Grund.

Es war sein Beruf, Kinder zu erschrecken. (…) Sein Beruf war streng geheim. Er arbeitete nämlich für die Agentur der schrecklichen Tiere. Kein einziges Kind im Städtchen Knutville durfte davon etwas wissen. Es wird also allerhöchste Zeit, dass du erfährst, wie es dazu gekommen ist.


Der niedlichste Hund der Welt entstand als einer der ersten Texte für das Buch, das viel später als Kralle & Co. im Buchladen landete. Dieses Buch hat Anna Lott oftmals begonnen, verworfen, neu gestartet, obwohl die Grundidee (Tiere vermiesen Kids die Lust auf ein Haustier und werden dadurch steinreich) vorhanden war. Es ging um den Ton der Story und um die Gewichtung von Tragik und Humor. Es sollte eine Story werden, über die Kids und Erwachsene gleichermaßen lachen (und weinen), ein Buch, das sich für die Rechte von Kindern stark macht, aber nicht aus deren Perspektive erzählt wird, sondern aus der Perspektive eines der Unheil stiftenden Protagonisten - eine Herausforderung. Was daraus letztendlich geworden ist, kannst du hier lesen.

Prolog

(Das ist das Vorwort, das am Anfang einer Geschichte steht. Prolog ist Griechisch und hat nichts mit Lügen zu tun.)

"Komm, Hund, komm!"
Mucksmäuschenstill starrte Kralle den Jungen an. Wenn man es ganz genau nimmt, starrte er die Nase des Jungen an. Sie war ungewöhnlich lang und ihre ein wenig knubbe­lige Spitze war übersät mit unzähligen Sommersprossen.

Mit einem Mal hatte Kralle eine Idee, die besser war als alle Ideen, die er je hatte. Oh, wie würden die anderen stau­nen, wenn er ihnen davon erzählte! Wie verrückt begann es in ihm zu kribbeln und zu krabbeln. Überall.

Jetzt bloß nicht kichern und alles vermasseln. Bloß nicht!

"Nun komm schon, Hund! Warum kommst du nicht?" Der Junge zog unschlüssig an seiner Leine.

Kralle fand das nicht sonderlich angenehm, aber er küm­merte sich nicht weiter darum. Viel wichtiger war, dass er seinen Auftrag erfüllte. Er würde das Zimmer des Jungen nicht eher wieder verlassen, als bis er es geschafft hatte. Bis er gezeigt hatte, was in ihm steckte.

Langsam schleckte er sich über sein Maul. Dann spannte er seine Muskeln an und machte sich bereit zum Sprung. Dabei trippelte er mit seinen großen Pfoten auf dem Teppich herum, als würde er Flusen daraus hervorziehen wollen. Es gab nur ein einziges Ziel: die Nase des Jungen. Die große Sommersprosse genau in der Mitte. Die wollte er treffen!

Fünf, vier, drei, zwei, eins, los!
Mit voller Kraft sprang er auf den Jungen zu. Er landete in seinen Armen, öffnete sein Maul und saugte sich wie ein Fisch an der Knubbelnase fest.

"Mama! Iiiiiiiiiiihhhh! Der Hund ist ekelig! Er knuuuu­uutscht!", kreischte der Junge.

Kralle hatte es mal wieder geschafft. Er hatte einem Kind die Lust auf ein Haustier gewaltig vermiest. 

Porträt von Anna Lott
@ Julia Windhoff

Anna Lott

wurde 1975 in Nordrhein-Westfalen geboren. Sie hat Theater, Erziehungs- und Literaturwissenschaften studiert und eine Ausbildung zur Gemüsegärtnerin, Clownin und Drehbuchautorin absolviert. Nach einem Volontariat bei Radio Bremen hat sie dort einige Jahre als Redakteurin gearbeitet und stellt noch immer regelmäßig Bücher für Kinder im Radio vor. Neue Tipps von ihr erscheinen im Juli bei Bremen Vier und auch bei Bremen Eins. Seit 2014 ist Anna Lott als freie Autorin tätig und schreibt und entwickelt mit Leidenschaft Geschichten für Kids für TV, Hörfunk, Print und digitale Medien. Anna Lott lebt mit ihren zwei Söhnen in Bremen. Beim Festival Galaxie der Bücher hat Anna Lott aus ihrem Buch Kralle & Co. gelesen.

Zum Autorinnenprofil von Anna Lott


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