Lesezeichen: Donka Dimova

Koffer
© Rike Oehlerking

Randleben
Von Donka Dimova

Mit so viel Hoffnung bist du gekommen,
schwer ist sie zu tragen,
mit einem Koffer und zwei Rucksäcken
und dem großen Versprechen – Arbeit und Lohn.

Die Arbeit hat dich gefunden,
auf der Baustelle, denn bauen kannst du,
Luftschlösser aus schweren Steinen,
Zukunft aus Restbeständen,
aus dem, was keiner braucht,
baust du dir ein neues Leben.

Aber es ist schwer,
in der prallen Sonne die Steine zu stapeln,
die Bretter zu hämmern, das Leben zu verbiegen.
Müde ist deine Zuversicht am Abend,
wo willst du den krummen Rücken ausstrecken
und die Träume fallen lassen?
Wo willst du heute schlafen, Aslan?

Blumen wolltest du in Kästen pflanzen,
Wäsche an eine Leine hängen,
aber nein, dreckig und zerknittert
liegt die Hoffnung auf dem Boden
deines Koffers, auf dem Boden
der Tatsachen – viel Arbeit, nicht genug Lohn,
und keine Wohnung will dich haben,
kein Balkon gibt dir einen Vertrag.

Heute bleibst du noch mal auf der Baustelle,
im Baucontainer ist es heiß,
und zwei andere liegen
schon auf ihren Matratzen,
für dich wird es auch noch reichen.
Nur die Wahl hat hier keinen Platz gefunden,
sie schläft woanders.

Und dann diese Videoanrufe jeden Abend,
die Verwandten aus der Heimat wollen was,
wollen viel, wollen Geld,
strecken die Hand aus,
stechen in deine Rippen,
in deinen Stolz:
Schicke uns was, wir sind arm,
Mutter ist krank.

Und dann machst du das Video an
und tanzt in der Kneipe
mit einem Glas in der Hand
und lachst mit allen Zahnlücken, die du hast.
Geld kommt bald, so schön ist Deutschland,
so reich das Schloss, das du baust.

Dieses Lesezeichen ist ein Auszug aus dem Prosagedicht Mehrfamilienhaus ohne Aussicht, für das Donka Dimova mit dem Autor*innenstipendium 2022 ausgezeichnet wurde. Einen Ausschnitt daraus findest du auch im MiniLit-Heft Nr. 17. Weitere Infos zum Stipendium gibt es hier:


Donka Dimova

ist 1986 in Burgas, Bulgarien geboren. Die Poesie begeistert und beschäftigt sie seit ihrem frühen Schulalter. Sie veröffentlicht in Sammelbänden, Zeitschriften und Anthologien. Sie studierte Politikwissenschaft und Europäische Studien in Bremen und Hannover und arbeitet seitdem mit Menschen in schwierigen Lebenslagen. Im Jahr 2014 kam ihr erster Poesieband Übersetzung des Alltags in Bulgarien heraus. Seit 2016 leitet und begleitet sie künstlerisch-pädagogische Projekte für Kinder und Jugendliche nach dem eigenen Konzept Spiele mit Sprache. Sie übersetzt Poesie auf Deutsch und Bulgarisch.

Zum Autorinnenprofil

Porträt von Donka Dimova
© Julian Elbers

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