Einheitsbrei des Grauens

Frauen demonstrieren
© Gayatri Malhotra on Unsplash

Eine Weltmacht legt den Rückwärtsgang ein und fährt beherzt die eigenen Revolutionen über den Haufen. Am Steuer: zumeist ältere Männer, weiß, cis, hetero. Sie bestimmen, was Menschen mit Uterus mit ihren Körpern machen dürfen. Sie bestimmen, ob junge Menschen die korrekte Identität annehmen, um Schulsport machen zu dürfen. Sie bestimmen, worüber Lehrkräfte mit ihren Schulkindern sprechen dürfen, damit diese bloß nicht vom Einheitspfad abkommen. 

Sie bestimmen den Kurs einer Nation zurück auf ihr wesentliches Dokument, ihre Verfassung. Ein Dokument, heiliger als alle heiligen Schriften zusammen, verfasst von Männern, weiß, sehr wahrscheinlich cis und hetero, für Männer, weiß, cis, hetero. In diesem Dokument wird kein Wort über die weibliche Selbstbestimmung verloren. Diese war nun mal keine Priorität, man hatte größere Sorgen. Eine Revolution stand an, ein längst überfälliger Kampf um… Selbstbestimmung. Oh well. 

Ich lasse nun einen politischen Podcast nach dem anderen über mich spülen wie Wellen. Die Wellen brechen und das Wasser zieht und zerrt und brüllt ohrenbetäubende Realitäten.

Die erste Welle donnert: Das Recht eines Menschen mit Uterus, über die Nutzung dieses Uterus' frei zu bestimmen, war ein halbes Jahrhundert lang sicher. Verankert gar in seinem Bezug auf die Verfassung und ihre Zusätze. Doch jetzt wird an diesem Recht gerüttelt. In einigen Wochen schon könnte es ganz legal gekippt werden. 

Die nächste Welle: Etwa die Hälfte der ganzen, großen Weltmacht droht daraufhin, die freie Bestimmung über die Nutzung des eigenen Uterus' sofort abzuschaffen. 

Die nächste Welle: Den Preis dafür werden vor allem Menschen mit weniger Geld und weniger Einfluss zahlen. Diese Menschen sind größtenteils nicht weiß. Keiner dieser Menschen ist männlich, weiß, cis, hetero. 

Luft holen, es kommt noch eine. 

Die nächste Welle: Wenn dieses Recht aus seiner Verankerung gerissen wird, dann können weitere ins Wanken geraten. Das Recht auf Ehe unabhängig vom Geschlecht. Das Recht auf Ehe unabhängig von der Hautfarbe. Das Recht auf gleiches Recht für alle? 

Die nächste Welle: Den Preis dafür werden alle Menschen zahlen. Alle außer männlich, weiß, cis, hetero. Und irgendwann auch die, wenn sie etwas taugen. Denn um einen der vielen politischen Podcasts zu zitieren: Eine Gesellschaft, die in dieser Weise eingeschränkt wird, entwickelt sich nicht weiter. Im Gegenteil: Sie wird ärmer und dümmer. 

Doch warum kümmert es mich, hier drüben, auf der Seite des Ozeans, von der aus man einst loszog in die neue Welt, wo nichts unmöglich sein sollte? Nicht einmal Reisen (zurück) durch die Zeit, wie es scheint. Doch das ist es ja gerade, was so schmerzt. Es ist die absolute, ungeschönte Gegenwart einer Weltmacht, deren Kurs auf Fortschritt, Vielfalt, Gleichheit stand. Doch dann drehte die Weltmacht ab. 

Und der Rest der Welt schaut zu. Auch wir schauen zu, die kleine MS Europa. Und viele Köpfe hier schütteln ungläubig. Kleine, dumme Weltmacht, will einfach nicht ankommen im 21. Jahrhundert. Doch es gibt auch hier die Köpfe, die nicken. Die fühlen sich bestätigt in ihren Meinungen und Handlungen. Bestätigt durch die Weltmacht und ihr rücksichtsloses Niedermähen der eigenen Fortschritte, wieder und wieder. Diese Köpfe sind fast ausnahmslos: männlich, weiß, cis, hetero. 

Ein Einheitsbrei des Grauens.

Das Kollit

ist Bremens Junges Kollektiv für Literatur. Hier vernetzen sich junge Autor*innen aus Bremen und umzu, um neue Räume für den literarischen Nachwuchs zu schaffen. Schreibtreffs, Auftritte, gemeinsames Netzwerken und die Herausgabe der Zeitschrift Koller sind Teil des Projekts.

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Gianna Lange

wurde 1988 in Bremen geboren. Sie absolvierte den Internationalen Studiengang Fachjournalistik an der Hochschule Bremen und verbrachte im Zuge dessen ein Semester an der University of Greenwich in London. Den Masterabschluss machte sie in Transnationaler Literaturwissenschaft an der Universität Bremen. Als Autorin des Onlinemagazins BOM13 war sie an diversen Lesungen beteiligt. Für ihr Romanprojekt Elise wurde Gianna Lange 2015 mit dem Bremer Autorenstipendium ausgezeichnet.

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Porträt von Gianna Lange
© Patric Leo

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